| Kapitel 1 Leseprobe
Die Nachmittagssonne fiel schräg durch die hohen, gebogenen
          Fenster und ließ den tanzenden Staub wie
          Sterne und Planeten aussehen. Es war vollkommen still,
          ich war allein in dem großen Raum. Für einen kurzen Moment
          saß nur ich hier in diesem Saal des Gerichts. Wie viel
          hatte ich hier erlebt und gehört, Tränen und Wut – Triumphe
          und Verzweifl ung, doch nie die Stille. Die erlebte ich
          erst jetzt.
          Es war nicht die Ruhe vor dem Sturm. Auch nicht die
          Ruhe nach einer geschlagenen Schlacht. Es war der Moment
          der Stille dazwischen. Nach dem Kampf, vor dem
          Urteil. Die Stille, die noch alle Möglichkeiten in sich birgt
          und für einen Augenblick zwischen Sieg und Niederlage
          schwebt.
          Eigentlich müsste es hier drinnen Geister geben, Schwingungen
          und Vibrationen von all der Trauer, all der Verzweiflung und all den zerstörten Leben, doch der große,
          leere Raum mit seinen schweren Eichenmöbeln schien die
          Wirklichkeit hinter den hohen Fenstern auf Distanz zu
          halten.Als ich die schwarze Robe anzog, öffnete sich die Tür an
          der Schmalseite des Raumes, und der Staatsanwalt kam
          her ein. Er ging langsam zu seinem Platz, während auch er
          seine Robe anlegte. Seine Schritte hallten im Raum wider.
          Er nickte mir schweigend zu, ohne zu lächeln. Dann standen
        wir uns wartend gegenüber. Schließlich kam der Gerichtsdiener herein.
 »Wo ist Ihr Mandant, Herr Brenne?«, fragte er.
        Ich zuckte mit den Schultern.
 »Auf dem Weg, nehme ich
        an. Er war im Untergeschoss des Präsidiums und hat dort
        etwas zu essen bekommen. Haben Sie dort angerufen?«
 »Ja, die sollten längst hier sein.«
 In diesem Moment öff nete sich die Tür rechts neben
        mir, und mein Mandant betrat den Raum. Er trug Handschellen
        und wurde von zwei Beamten begleitet. Nachdem
        sie seine Fesseln gelöst hatten, kam er auf mich zu. Er war
        recht jung, hatte kurzgeschorene, blonde Haare, ein dickliches
        Gesicht und einen kräftigen Körper. Er trug ein weißes
        T-Shirt und eine Jeans. Ich hatte ihn schon die ganze
        Woche bearbeitet, etwas anderes anzuziehen, aber er wollte
        nicht. Jetzt war es zu spät. Er setzte sich auf seinen Platz
        und stützte den Kopf auf die Hände. Angeklagt war er wegen
        zweifachen Mordversuchs. Mit einem Messer. Ich hatte
        auf Notwehr plädiert.
        Ich ging zu ihm, zögerte etwas und legte ihm dann für
        einen kurzen Moment die Hand auf die Schulter. Als er zu
        mir aufblickte, sah er wie ein kleiner Junge aus. Er hatte
        Angst.
 »Wie sieht’s aus?«, fragte er. »Warum brauchen die so
        lange?«
 
                  »Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Wir werden es bald
          wissen.«
 
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                    |  |  Dann warteten wir auf das Gericht. In diesen Augenblicken
          des Wartens gibt es keine Zeit für Trost. Das ist die
          Stunde der Wahrheit, in der sich die Sekunden für die Angeklagten
          endlos in die Länge ziehen.
          Schließlich kamen die Richter. Alle drei trugen schwarze Roben mit Samtbesätzen. Zwei Männer und eine Frau. Sie
          blieben stehen. Wie wir anderen. Ich sah zu meinem
          Mandanten. Er klammerte sich an die Tischplatte vor sich
          und sah aus, als hätte er Schwierigkeiten, aufrecht zu stehen.
          Der vorsitzende Richter nickte dem Gerichtsdiener zu.
 »Bitten Sie die Geschworenen herein«, sagte er. Mein Magen
          zog sich zusammen.
          Die Tür hinter dem Staatsanwalt wurde geöffnet, und
          die Geschworenen betraten langsam den Raum. Sie gingen
          zu ihren Plätzen, an denen sie die ganze Woche gesessen
          hatten. Auch mir kamen diese Momente wie eine Ewigkeit
          vor. Ich versuchte, ihre Blicke einzufangen und etwas in
          ihren Gesichtern zu lesen. Dabei wusste ich aus Erfahrung,
          wie wenig das nützt. Zehn ganz normale Menschen, die
          meisten schon recht betagt. Sie sahen grau und müde aus.
          Ich legte meine Hände auf den Rücken, um sie gleich darauf
          wieder vor meinem Bauch zu falten. Meine Handflächen waren feucht. Für einen Augenblick kochte die Wut
          in mir hoch. Wut darüber, eine Woche in diesem Gerichtssaal
          verbracht und bis zur Erschöpfung gerungen zu haben
          und jetzt keinerlei Einfluss, keine Kontrolle mehr über die
          Situation zu haben. Zum Warten verdammt zu sein.
 »Bitte«, sagte der vorsitzende Richter zum Sprecher der
          Jury.
 »Sie können Ihre Entscheidung verlesen.«
 Er stand auf, ein etwas gebeugter, älterer Mann in Strickjacke
          und weißem Hemd. Er fingerte an dem Papier in seinen
          Händen herum und räusperte sich. Meine Hände hatten
          sich fest ineinander verhakt.
 »In der Hauptanklage«, las er mit viel zu lauter Stimme,        »haben wir auf schuldig erkannt. Mit mehr als sieben Stimmen.«
 Die Übelkeit schoss in mir hoch, so dass ich mich
          beinahe zusammenkrümmen musste.
          Das ist jedes Mal so. Die Enttäuschung ist so überwältigend,
          dass sie mich lähmt. Ich setzte mich und nahm den
          Rest der Verhandlung durch einen Schleier der Gleichgültigkeit
          wahr, bis der Richter die Verhandlung vertagte.
 »Es ist schon spät«, sagte er. »Wie Sie wissen, können
          wir morgen aus terminlichen Gründen keine weitere Verhandlung
          ansetzen. Wir werden uns aber am Wochenende
          zusammensetzen und über das Urteil beraten. Das Gericht
          vertagt sich deshalb auf Montagmorgen, neun Uhr. Wir
          rechnen damit, dass die Verhandlung bis gegen Mittag abgeschlossen
          sein wird.«
 Wir standen auf, als die Richter den Saal verließen – mit
          Ausnahme meines Mandanten, der wie betäubt auf seinem
          Platz verharrte. Ich setzte mich neben ihn und versuchte,
          die richtigen Worte zu finden. Als er mich ansah, stand in
          seinen Augen die blanke Angst. Erst jetzt schien er wirklich
          an eine Verurteilung zu glauben.
 »Was bekomme ich,
          Herr Brenne? Wie viele Jahre kriege ich?«
 Ich konnte ihm kaum in die Augen sehen.
 »Ich weiß es
          nicht. Ein paar werden es schon sein, das wissen Sie. Ich
          muss mir alles übers Wochenende noch mal durch den
          Kopf gehen lassen.«
 Er nickte. Mehr gab es nicht zu sagen. Wir saßen noch
          ein paar Minuten nebeneinander, konnten aber nur die
          Enttäuschung teilen. Dann wurde er von den Polizisten abgeführt.
          Der Staatsanwalt kam durch den Saal auf mich zu, reichte 
          mir die Hand und wünschte mir ein schönes Wochenende.
          Ich schlug ein, erwiderte seinen Wunsch, konnte ihn aber nicht anlächeln. Ich bin Verteidiger und will gewinnen,
          wenn ich vor Gericht stehe. Das hat nichts mit meinen
          Mandanten oder den jeweiligen Fällen zu tun. Es spielt keine
          Rolle, ob ich sie für schuldig halte oder nicht. Ich will
          einfach nur gewinnen.
 
 
 Jetzt brauchte ich ein Bier.
 
 
 Danke an die Verlagsgruppe Droemer Knaur* für die Veröffentlichungserlaubnis.
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