| 1 Leseprobe
Es war ein verfluchter Abend, einer dieser Abende, 
          an denen man unwillkürlich erwartet, dass die schlimmsten und verkehrtesten 
          Dinge geschehen. Dabei weiß natürlich jeder, dass sie sowieso 
          zu jeder Zeit überall auf der Welt (und vermutlich auch auf möglichen 
          anderen bewohnten Planeten) geschehen können, aber es gibt gewisse 
          Tage, an denen ist die Stimmung, der Ton einfach so, als wären 
          sie (genau wie bestimmte Menschen, denen man begegnet) von Anfang an 
          verloren, hätten nie eine wirklich faire Chance gehabt, würden 
          unwiderruflich auf einen Abgrund zutreiben.Es war ein kalter, windiger, regnerischer Abend. Es war ein Montag, 
          und es war Anfang Januar. Die Menschen auf den Kopenhagener Straßen 
          versteckten sich hinter ihren Regenschirmen, oder sie gingen vornüber 
          gebeugt, die Köpfe wie wütende Stiere vorgereckt, während 
          sie sich ihren Weg durch den Regen bahnten. Die meisten sahen aus, als 
          dächten sie an ihre Steuererklärung oder daran, wie sie die 
          flachste Miete bezahlen sollten. In den Straßen stand das Wasser, 
          und das jetzt schon am dritten Abend hintereinander.
 Es war ein Abend, an dem jeder, der noch einen Funken Verstand besaß, 
          sich in den gemütlichsten Sessel setzen würde, den er auftreiben 
          konnte, um ein gutes Buch zu lesen, mit seinem Lieblingsdrink in Reichweite.
 Und natürlich war es der Abend, ausgerechnet dieser Abend, an dem 
          ich eines dieser fünfundzwanzig bis dreißig verrückten 
          Individuen war, die sich auf den Straßen der Stadt herumtrieben.
  Ich lief nachdenklich herum. Ich hatte so einiges, 
          worüber ich nachdenken musste. Ich hatte Probleme genug, um mindestens 
          drei Spalten im Zeitungskummerkasten zu füllen.Ich hatte eine Frau geschwängert. Eine alte Geschichte, und glaubt 
          bloß nicht, dass ich stolz darauf bin: Das hätte jeder erstbeste 
          Fahrradbote fertig bringen können, und vielleicht besser als ich. 
          Aber nun war ich es. Hatte es nun einmal fertig gebracht, und damit 
          war es auch mein Problem.
 Aber im Hinblick auf die Naturgesetze war es natürlich noch mehr 
          ihr Problem als meines.
 Und sie - Gitte Bristol, die schwarz funkelnde Rechtsanwältin, 
          mit der ich "ging", seit wir uns vor einem halben Jahr im 
          Flugzeug nach Rodby kennen gelernt hatten, ohne ihr eigentlich in dieser 
          ganzen Zeit sehr viel näher gekommen zu sein - sie hatte so ihre 
          Zweifel. Sie wusste nicht, ob sie ein Kind mit mir haben wollte. Sie 
          wusste überhaupt nicht so recht, ob sie mit mir zusammen sein wollte.
 Schwierige Aussichten.
 Folglich empfand sie ihre Situation als bedrückend und war zeitweise 
          auf dem besten Weg in die Depression, dann wieder war sie wütend 
          und aggressiv, oft auf die ganze Welt, meistens besonders auf mich, 
          da ich ein ziemlich aufdringlicher Teil dieser Welt war. Sicher, ich 
          war nur das zweitaufdringlichste Wesen, aber dabei einfacher anzugreifen 
          als das unbekannte Wesen, das zusammengekauert in ihrem Körper 
          abwartete.
 Im Abstand von nur wenigen Tagen wechselte sie immer wieder ihre Meinung, 
          wie eine Art menstrueller Zyklus. Mal wollte sie "ihr" Kind 
          haben, dann wollte sie versuchen "unser" Kind zu bekommen, 
          und dann wollte sie es wieder abtreiben.
 Die Wut einer Frau, die Hysterie einer Frau ist in der Regel - wie die 
          Amerikaner sagen - right as rain.
 Aber ihre Arbeit verrichtete sie wie immer: zuverlässig, effektiv, 
          genau und mit dieser unmenschlich hohen Arbeitsmoral, die fast nur äußerst 
          selbstbewusste Frauen aufbringen können.
 An diesem Abend war sie außergewöhnlich schwachsinnig gewesen, 
          natürlich. Ich konnte ihr das in ihrer Situation nicht vorwerfen. 
          Und als sie "gern allein sein wollte", wie sich eine Frau 
          mit ihrer Erziehung so selbstverständlich ausdrückt, machte 
          ich mich auf in den Regen, mehr oder weniger automatisch auf den Weg 
          "nach Hause", zu dem "Zuhause", das ich noch mein 
          eigen nannte, während ich bereits halbwegs bei ihr wohnte, oder 
          zumindest übernachtete. Ich ging also und "dachte", wenn 
          das kein zu großes Wort dafür ist.
 Ich dachte an den Moment, als ich sie das erste Mal sah, bei meinem 
          chinesischen Freund Ho Ling Fung, in seinem Restaurant, wo sie allein 
          aß und so eine Wirkung auf mich ausübte, wie ich sie noch 
          nie erlebt hatte. Ich dachte an damals, als ich auf dem Flughafen von 
          Rodby das erste Mal mit ihr sprach, dem beklagenswerten Mangel an Mietwagen 
          auf diesem provinziellen Flugplatz sei Dank. Ich dachte - leicht zitternd 
          vom Regen und den Erinnerungen - an die Nacht, als sie mich im Hotel 
          Rodby "herein.. ließ".
 Ich dachte an ihr Leben, die französische Schule, ihre Kindheit 
          im Richterhaus, an ihren pompösen Amtsrichter-Vater und den unterdrückten 
          Schatten einer ewig mit den Kaffeetassen klappernden Mutter, um die 
          Chesterfield Garnitur voller Zigarrenrauch herumhuschend. Ich dachte 
          an ihre missglückte erste Ehe, und als ich daran als ihre "erste" 
          dachte, sah ich mich gleichzeitig als Kandidaten für die zweite.
 Wirklich, ich liebte sie, mehr als ich jemals jemanden geliebt habe.
 Es ist gelogen, was die meisten trivialen Festredner behaupten, dass 
          Liebe blind macht. Die Wahrheit ist genau das Gegenteil: Liebe macht 
          sehend. Leute, die lieben, sehen Dinge, für die sonst niemand Augen 
          hat, und oft handeln sie klarer und konsequenter als die so genannten 
          "coolen Typen".
 Deshalb war ich auch nicht blind gegenüber der einleuchtenden Tatsache, 
          nicht gerade eine gute Partie für sie zu sein. Wenn es stimmt, 
          dass gleich und gleich sich gern gesellt, dann hätten wir nicht 
          einmal zusammen Fangen spielen können.
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |          Und trotzdem hatten wir das, und die Ergebnisse waren jetzt offensichtlich.Danke an den Bastei-Lübbe Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Es gab also genug Stoff zum Nachdenken, und die Gedanken liefen in ihren 
          planmäßigen, gewohnten, sinnlosen, vogelpfeifenartigen, bewährten 
          Bahnen, während ich straßauf, straßab in dem strömenden 
          Regen wanderte, der an diesem späten Abend langsam alle Mauern 
          und Häuser der Stadt sauber zu waschen schien und sie mit seinen 
          Tropfen märchenhaft zum Glänzen brachte.
 Plötzlich erwachte ich wie aus einem Traum und stellte fest, dass 
          meine dienstwilligen Beine mich die altvertrauten Kopenhagener Straßen 
          entlanggeführt hatten: die Istedgade hinunter, über den Vorplatz 
          des Hauptbahnhofs, über die Strøget und die Købmagergade 
          nach Nørreport und bis auf die Nørrebrogade - eine Route, 
          die meine Beine in den letzten zwanzig Jahren mehrere tausend Mal gegangen 
          oder gefahren waren. Kein Wunder, dass sie sie kannten, wie ein Pferd, 
          das seinen Weg kennt. Aber sie kommen eigentlich selten so weit in diese 
          Richtung.
 An diesem Abend waren sie bis zum Nørrebro Rondell gekommen, 
          dort, wo der Jagtvej und die Nørrebrogade sich kreuzen mit Straßen 
          nach Norden, Süden, Osten und Westen oder besser gesagt: in die 
          Innenstadt, nach Bispebjerg, nach Lyngby oder nach Frederiksberg.
 Das war eine Gegend, die ich kannte, oder genauer gesagt: eine, die 
          ich gekannt hatte. Ein Teil meiner Familie lag hinter den grauen Mauern 
          des Assistens Friedhofs zusammen mit Hans Christian Andersen und Søren 
          Kierkegaard, ein Teil von ihnen hatte seit Generationen in den großen 
          Mietskasernen von Nørrebro gelebt.
 Ich blieb einen Moment lang direkt am Rondell stehen, um die Atmosphäre 
          in mich aufzusaugen. Einen Augenblick lang war ich ein Fremder, der 
          in ein unbekanntes Land eingedrungen war, aber dann tauchte nach und 
          nach die Erinnerung wieder auf. Rechts stand wie immer die Zigeuner-Halle, 
          der alte, volkstümliche Tanzsaal mit Blasmusik, Witwenball, Ein-Liter-Bjer-Humpen 
          und Tanz auf den Bänken zu gemeinsamen Liedern. Links, auf der 
          anderen Seite des Jagtvej, lag immer noch das Colloseum, das Kino für 
          die Jugend, als ich jung war. Allein der Anblick des Reklameschilds 
          ließ die Erinnerung an die Zeiten mit Elvis Presley, James Dean 
          und den inzwischen nicht mehr erhältlichen Marken von Lederjacken 
          und Motorrädern wieder aufleben.
 Und mittendrin lag heute wie früher das Central Café, das 
          Central Café mit seinen abgewetzten Plüschsesseln und den 
          heruntergekommenen gelblichen Bordelllampenschirmen hinter den alten 
          Goldschildern zur Straße hin.
 Das alles war unverändert, und die melancholische steinerne Trostlosigkeit 
          der Friedhofsmauer sah auch aus wie eh und je.
 Das war eine Gegend, die man in anderen Gegenden, in solchen, aus denen 
          Gitte Bristol stammte, als "ein hartes Pflaster" bezeichnen 
          würde. Ich glaube zwar nicht besonders an eine spezielle Härte, 
          jede Gegend hat ihre eigene, aber es ist zumindest eine armselige Ecke, 
          und niemand kommt von hier, ohne das erfahren zu haben. Es ist eine 
          Gegend, die ihre Identität aus tausenden gleichförmiger Wohnungen 
          schöpft, die alle gleich eingerichtet sind, weil sie gar nicht 
          anders eingerichtet werden können, wenn ihre Bewohner darin schlafen, 
          essen und scheißen sollen. Das ist eine Gegend, in der Kinder 
          nur selten Stipendien oder Zuschüsse für die so genannte Weiterbildung 
          bekommen. Das ist eine Gegend, in der es schon eine Herausforderung 
          bedeuten kann, lange genug zu überleben, um überhaupt in die 
          Schule zu kommen und gerade mal genug zu lernen, um seine Sozialhilfe 
          quittieren und seinen Lottoschein ohne Hilfe anderer ausfüllen 
          zu können.
 Aber das ist auch eine Gegend mit äußerst akkuraten Topfpflanzen 
          auf den Fensterbänken, mit Schifferklaviermusik, mit schwachem 
          Essensduft aus den Hinterhofküchen mit Gemüse, das im wahrsten 
          Sinne des Wortes auf den Bürgersteig hinausquillt (so wie die Kopenhagener 
          es so gern in den exotischen südeuropäischen Städten 
          sehen), mit vielen Menschen, die alt und faltig geworden sind und trotzdem 
          oft eine Art geheimnisvolles wissendes Lächeln zeigen, während 
          sie gebückt mit einem Einkaufsnetz in der Hand die gleichen engen 
          Gassen hinuntertrotten, in denen sie ihr ganzes Leben verbracht haben.
 Ein Ort, will ich damit sagen. Ein Ort, an dem man ein wenig stehen 
          bleiben und ins Nachdenken kommen kann, sich umschaut, während 
          man sich vielleicht einen Moment lang einbildet, etwas zu begreifen, 
          nur einen Funken von dem Ganzen.
 Wenn es einem überhaupt erlaubt sein sollte, an so einem verfluchten 
          Abend irgendwo stehen zu bleiben und nachzudenken.
 Das war es mir nicht. Eine Frau begann irgendwo in der Nähe zu 
          schreien, laut zu schreien, durchdringend und wahnsinnig. Voller Angst, 
          wie in einem Horrorfilm.
 Ich verlor den Faden. Aber der war sicher auch nichts mehr wert.
 |