| 1. Leseprobe
Die Sonne schien auf das Wasser des Århus-Flusses 
          und die Luft roch nach Spätsommer. Die Blumenhändlerin an 
          der Ecke des großen Kaufhauses Magasin hatte reichlich zu tun, 
          und Eltern von Kleinkindern und Teenager bevölkerten langsam die 
          Fußgängerzone Immervad und schleckten das erste Eis des Tages. 
          Alles wirkte so gesehen ziemlich normal. Unnormal normal, im Grunde 
          genommen. Eigentlich hätte es ein schöner Tag sein können, 
          wäre er nicht so verdammt schlecht gewesen. Irgendetwas in der 
          Richtung dachte sie, als sie das Kind erblickte. Oder besser gesagt 
          den Laut hörte, denn er fing als Erstes ihre Aufmerksamkeit ein. 
          Der raue Laut von Plastik, das gegen Steine schabt. Warum er gerade 
          ihr Ohr erreichte, wusste sie nicht. Vielleicht litten die Gäste 
          in den Straßencafés unter den Heizstrahlern nach den Open-Air-Konzerten 
          des Sommers unter einer verminderten Hörfähigkeit. Oder das 
          Gehör verfeinerte sich, wenn man vierzig wurde. Aber vorher, bevor 
          sie das Kind entdeckte, waren da die Freundinnen Ida Marie und Anne. 
          Und ihr verdammtes Geburtstagsgeschenk, das sie, mit hochrotem Kopf 
          und verlegen, ganz entspannt entgegenzunehmen versuchte. Was ein wenig 
          schwierig war, vor allem weil Ida Marie sich mit ihrem großen, 
          dicken Bauch erhoben und für das ganze Café und alle Passanten, 
          die zuhören mochten, ein schwedisches Geburtstagslied angestimmt 
          hatte. Dazu winkte sie mit einer schwedischen Fahne. Die Leute klatschten, 
          als sie fertig war. Aller Augen waren deshalb auf ihren Tisch gerichtet, 
          hatte Dicte das Gefühl. Und das wäre vielleicht gar nicht 
          so schlimm gewesen, wäre da nicht noch dieses Geschenk gewesen, 
          das Ida Marie und Anne ihr feierlich überreichten.»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, zum Haus und zur 
          Scheidung«, leierte Anne herunter, als läse sie von einem 
          unsichtbaren Merkzettel ab. Anne war nie die Spontanste gewesen und 
          hatte die kleine Rede bestimmt auswendig gelernt.
 »Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen versucht, ein Geschenk 
          zu finden, das zu jedem der drei Anlässe passt.«
 Ida Marie holte ihre Kamera aus der Tasche. Ida Maries Kamera war berüchtigt. 
          Anne ignorierte sie.
 »Glaub nur nicht, dass das leicht war. Und billig auch nicht. 
          Wir haben die verschiedensten Leute um Rat gefragt. Psychologen, Moderatoren, 
          Teilnehmer der Robinson-Show und Kummerkastentanten. Alle haben ihre 
          Meinung beigesteuert, und das Resultat ist, wenn ich das so sagen darf, 
          ergreifend.«
 »Man muss einfach zugreifen«, fügte Ida Marie ernsthaft 
          hinzu, während Anne in bester Stimmung und mit Showmaster-Stimme 
          an Dicte gewandt fortfuhr:
 »Es fällt in die Kategorie eins.«Während sie das Päckchen, eine längliche, in schwarzes 
          Seidenpapier gehüllte Schachtel mit einer flaschengrünen Schleife, 
          hervorholte, hatte Dicte das Gefühl, die ganzen letzten Geburtstage 
          wie auf einer gezippten Diskette Revue passieren zu sehen. Vielleicht 
          wäre es korrekter zu sagen, dass sie sie auf einen reduziert sah 
          und das kleine, irritierende Wort Gemütlichkeit darüber zu 
          schweben und ihr vor der Nase herumzubaumeln schien. Irritierend, dass 
          sie das vermisste. Ebenso wie die Familie. Wie Torsten, der Teufel sollte 
          ihn holen. Torsten war unübertroffen im Ausrichten von Geburtstagen, 
          das musste sie ihm lassen. Kaffee und Brötchen im Bett; Kerzen 
          auf dem Nachttisch; Liebe mit speziellen Dicte-Effekten, wie er das 
          nannte. Und abends ein Essen mit den engsten Freunden, die nach der 
          Scheidung die Seite gewechselt und sich für ihn entschieden hatten. 
          Nicht, weil die Moral auf seiner Seite war; alle wussten, dass dem nicht 
          so war. Sondern weil er bei Abendgesellschaften ein guter Unterhalter 
          und hin und wieder im Fernsehen zu sehen war. Jedenfalls war sie zu 
          diesem Schluss gekommen. Sie selbst war zurück nach Århus 
          gegangen, wo sie, wie die Hälfte der Einwohner Kopenhagens, ihre 
          Studienzeit verbracht hatte. Die Idee war, neu anzufangen. Den Kontakt 
          zu alten Freunden wieder aufzunehmen und neue zu finden, sodass sie 
          außer Rose noch andere Bezugspersonen hätte. Töchter 
          im Teenie-Alter waren und blieben unbeständige Zeitgenossen. Während 
          die Gedanken durch ihren Kopf schwirrten, kabbelten die Freundinnen 
          sich, inwieweit sich die Kategorie auf Werkzeug, Gerät, Hilfsmittel 
          oder ein Viertes eingrenzen ließ. Anne schlug Toilettenartikel 
          vor. Auf der gleichen Ebene wie Zahnbürste und Wattepads.
 »Und jetzt pack endlich aus«, verlangte Ida Marie ungeduldig 
          und richtete die Kamera auf sie. »Wir sind gespannt.«
 Den Blicken der übrigen Cafégäste nach zu schließen, 
          waren sie nicht die Einzigen, die warteten. Sie starrte das Geschenk 
          an, und es schien zurückzustarren. Schelmisch. Sie stellte sich 
          eine schwarze Schachtel vor, aus der in dem Moment, in dem sie sie öffnete, 
          ein Clown auf einer Feder heraussprang und sie mit einem Boxhandschuh 
          k.o. schlug. Trotzdem zog sie die Schleife auf. Packte langsam aus. 
          Hatte das Dings plötzlich in der Hand und versuchte ohne viel Glück 
          zu erraten, was für eine Funktion es hatte, während Ida Marie 
          professionell fotografierte. Es war schreiend pink mit kleinen roten 
          Noppen, woraus sie schloss, dass Ida Marie die Farbe ausgesucht hatte. 
          Und es war aus Plastik. Seine Form war länglich und erinnerte an 
          eine Rakete.
 »Jedenfalls ist es handlich«, sagte sie nervös. »Was 
          immer es ist.«
 Anne und Ida Marie kicherten und lachten. Auch an den meisten anderen 
          Tischen wurde gekichert und gelacht. Sie begann, das Ding zu untersuchen. 
          Drehte es auf den Kopf und stellte fest, dass der eine Teil, der untere, 
          sich drehen ließ. Ohne Vorwarnung begann das Dings so kräftig 
          zu vibrieren, dass sie es vor Schreck auf den Tisch fallen ließ. 
          Ihr erster Gedanke, als es ihr langsam dämmerte, war:
 »Das könnt ihr doch nicht ernst meinen.« Schnell gefolgt 
          von: »Wie sich das wohl anfühlt?«
 Sie begrub das Gesicht in den Händen und spürte, wie das Blut 
          sich verräterisch in Gehirn und Gesicht ausbreitete und alles rot 
          färbte, innerlich und äußerlich.
 »Ein Dildo!«
 Sie starrte Ida Marie und Anne an. Starrte auf den Vibrator, der auf 
          dem Tisch lag und sie aus Ärger, so unsanft fortgeworfen worden 
          zu sein, anknurrte.
 »Du musst zugeben, das war genial«, sagte Anne und sah sie 
          mit ihren schrägen Asiatenaugen an. Anne, die sonst immer so ernst 
          war. Anne, die Salman Rushdie las und die im Alter von sechs Monaten 
          mit einem Flugzeug aus Korea gekommen und auf einem ostjütländischen 
          Pfarrhof gelandet war. Und die jetzt davon lebte, kleine rosige Dänen 
          auf die Welt zu bringen. Ida Marie streckte mitfühlend die Hand 
          aus und schaltete den Dildo gekonnt aus.
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   »Sonst ist die Batterie gleich leer«, erklärte sie 
          und sah Dicte aus Augen von der Farbe der schwedischen Papierflagge, 
          die jetzt nutzlos auf dem Tisch lag, unschuldig an. »In der Zeitung 
          stand, dass jede siebte dänische Frau einen hat«, informierte 
          sie bereitwillig. Diese Gelegenheit konnte Dicte sich nicht entgehen 
          lassen.»Und was ist mit den Schwedinnen? Oder sind die Dinger in Schweden 
          verboten? Du könntest doch in Erwägung ziehen, sie einzuschmuggeln«, 
          schlug sie vor.
 »Aber die Batterien solltest du vorher rausnehmen«, fügte 
          Anne hinzu. Das Bild von Ida Marie mit Hunderten von vibrierenden Dildos 
          und einem wütenden schwedischen Zöllner zauberte auf wundersame 
          Weise das erste Lächeln dieses Tages auf Dictes Gesicht. Sie spürte, 
          wie sich ihre Mundwinkel plötzlich nach oben verzogen; wie die 
          Lachmuskeln sich spannten. Sie lachte erleichtert auf und ließ 
          etwas von dem Geburtstagsstress ab. Ida Marie nahm eine neutrale Stimme 
          an.
 »In Schweden kennt man so etwas natürlich nicht. Dort haben 
          wir die schwedischen Männer.«
 Der Kommentar löste Gelächter an den Nachbartischen aus.
 »Manche Frauen behaupten, so ein Ding einem Mann vorzuziehen«, 
          sagte Anne freundlich. »Es soll weniger Mühe machen. Wie 
          man so sagt.«
 »Wie man so sagt«, wiederholte Dicte und merkte, wie sie 
          ihre Fassung zurückgewann. »Soll das heißen, ihr habt 
          ihn nicht einmal ausprobiert?«
 Anne machte erst ein dummes Gesicht, dann gewann ihre praktische Natur 
          die Oberhand.
 »Du kannst ihn umtauschen«, sagte sie ernst. »Wenn 
          du mit dem hier nicht zufrieden bist, kannst du dir auch einen holen, 
          der wie ein Handy aussieht.«
 Dicte steckte den Dildo schnell zurück in die Schachtel.
 »Nun gut, danke für das Geschenk«, murmelte sie und 
          vermied es, den beiden in die Augen zu sehen. Stattdessen wanderte ihr 
          Blick zu der Blumenhändlerin an der Ecke hinüber, und sie 
          ärgerte sich, dass sie ihr nicht einfach einen Blumenstrauß 
          gekauft hatten. Sie sah sich die Leute an, die an diesem Septembertag 
          unterwegs waren. Ein Inlineskater schlängelte sich zwischen den 
          Eltern von Kleinkindern und den Eis essenden Teenagern durch. Alles 
          sah ganz normal aus, aber der Schein trog. War sie nicht gerade vierzig 
          geworden? Und war der unerwünschte Geburtstag nicht auf denselben 
          Tag wie die letzte Unterschrift in ihrer Scheidungssache gefallen? Und 
          als Krönung und Betonung ihres neuen  und unerwünschten 
           Singledaseins bekam sie einen Dildo als Geburtstagsgeschenk! 
          Genau in diesem Moment hörte sie den Laut vom Fluss, direkt unterhalb 
          der Stelle, wo sie saßen. Mit Annes und Ida Maries Stimmen im 
          Hintergrund erreichte er sie plötzlich und erinnerte sie an den 
          Tag vor vielen, vielen Jahren, als sie als Kind einen Plastikeimer in 
          den Hofbrunnen hinuntergelassen hatte, der nahezu bodenlos und verbotenes 
          Terrain war. Nur um hinterher ihre erste Ohrfeige zu kassieren. Vielleicht 
          vergaß sie deshalb alles über Dildos und Scheidungen und 
          Freundinnen, für die man sich schämen musste. Sie stand auf. 
          Ging die paar Schritte zum Ufer und sah in das morastig grüne Wasser 
          hinunter. Horchte wieder. Kniff im Sonnenlicht die Augen zusammen und 
          spürte mit dem Schaukeln des Wassers den Abstand zu damals. Dann 
          fiel ihr Blick auf die blaue Plastikwanne, die auf dem Wasser schaukelte. 
          Ganz nahe am Ufer, vielleicht von der Strömung dorthin getrieben. 
          Und dann sah sie das Gesicht, teilweise unter einem Handtuch versteckt. 
          Klein und bleich und mit geschlossenen Augen. Lange Zeit starrte sie 
          nur, während der Schürflaut zu einem unwirklichen Geräuschteppich 
          wurde. Dann schien ihr Körper aufzutauen, und sie spürte den 
          unmöglichen Drang, das Bündel in die Arme zu schließen. 
          Es zu beschützen. Seine weiche Haut an ihrer Wange zu spüren 
          und ihm Leben einzuhauchen, es warm, satt und zufrieden zu machen. Instinkt, 
          das wusste sie, und wunderte sich. Nach so vielen Jahren.
 »Ein Kind«, hörte sie ihre eigene Stimme, fern und 
          zitternd wie der Ton eines schlechten Tonbandgeräts. Sie merkte, 
          dass sie den Atem angehalten und die Luft erst mit den Worten herausgelassen 
          hatte.
 »Da unten liegt ein Kind.«
 Sie zeigte auf das trübe Wasser.
 
 Danke an den btb Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.
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