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                        | Der 
                          Autor Jo Nesbø Foto: Cato Lein
 |  |  "Ich stamme aus einer schreibenden und erzählenden 
                Familie. Meine Mutter war Bibliothekarin und mein Vater saß 
                jeden Nachmittag im Wohnzimmer und las. Und er erzählte. 
                Lange Geschichten, die wir bereits kannten, aber er erzählte 
                so, dass wir diese Geschichten gerne immer wieder aufs Neue hörten. 
                Im Alter von sieben Jahren zog ich "Der Herr der Fliegen" 
                von Nobelpreisträger William Golding aus dem Bücherregal 
                und bat meinen Vater, es mir vorzulesen. Nicht in erster Linie, 
                weil ich einen guten Geschmack gehabt hätte, sondern weil 
                auf dem Umschlag des Buchs ein blutiger Schweinekopf auf einem 
                Pfahl abgebildet war. Mein Vater las vor, aber ich war nur mäßig 
                beeindruckt. Und ich dachte, dass ich das selbst spannender hinbekommen 
                hätte. Ich hatte nämlich nach und nach begonnen, meinen 
                Altersgenossen und auch jenen, die ein paar Jahre älter waren, 
                mit grauenerregenden Gespenstergeschichten zu imponieren, die 
                ich mit Einfühlungsvermögen und Sinn für delikate 
                Details zum Besten gab. Obwohl - imponieren ist wohl kaum das 
                treffende Wort, denn derjenige, der stets am meisten Angst hatte, 
                war ich selbst.
 Doch vor allem spielte ich Fußball. Mit siebzehn spielte 
                ich in der ersten Liga in Molde und war überzeugt davon, 
                Profi bei Tottenham zu werden. Also schwänzte ich die Schule 
                und hockte in einem langen Mantel, den ich im Ausverkauf der Heilsarmee 
                erstanden hatte, im Café, kaute auf meinen eingezogenen 
                Wangen herum und unterhielt mich mit Stig und Tor über Dostojewski, 
                Hemingway und Hamsun, die wir nicht wirklich gelesen hatten, von 
                denen wir aber eine hohe Meinung hatten, besonders dann, wenn 
                sich irgendwelche süßen Mädels in Hörweite 
                befanden. In meiner Freizeit - also dann, wenn ich nicht Fußball 
                spielte - schrieb ich Texte für ein paar Kumpels, die in 
                einer Band spielten. Und meine Lehrer am Gymnasium vermittelten 
                den Eindruck, dass sich ein mystischer Schleier über die 
                faktische Existenz meiner Person legte. Das Leben war okay. Die 
                Zensuren gingen zum Teufel, aber was soll's? Ich würde ja 
                Profi bei Tottenham werden.
 
 Dann rissen in beiden Knien die Kreuzbänder.
 
 Es ist nicht sicher, ob es ein Verlust für Tottenham war, 
                aber für mich brach eine Welt zusammen. Mir wurde klar, dass 
                ich auf andere Dinge im Leben setzen musste. Studium und so. Das 
                Gymnasium war schon fast Vergangenheit, doch als ich die Prüfungsergebnisse 
                erhielt, dämmerte mir, dass ich nicht die passenden Noten 
                hatte, um das zu machen, was ich wollte; ein Teil der möglichen 
                Wege war schlicht und ergreifend versperrt. Der Gedanke, das Schreiben 
                zum Beruf zu machen, lag genauso fern wie gegen Kamerun im Sturm 
                zu spielen.
 
 So holte ich tief Luft, fasste den ersten erwachsenen Entschluss 
                meines Lebens und bewarb mich für den Militärdienst 
                im nördlichsten Winkel des Landes. Dort mauerte ich mich 
                ein und grub mich jeden Abend und an jedem Wochenende durch das 
                Pensum von drei Jahren Gymnasium. Mit dabei auch viel Hamsun und 
                Hemingway. Bislang hatte ich mich immer auf mein Talent verlassen 
                und war ansonsten den Weg des geringsten Widerstands gegangen. 
                Nun aber entdeckte ich eine neue Seite an mir; eine gewisse Selbstdisziplin. 
                Und als ich dann endlich das Prüfungszeugnis mit Top-Noten 
                in der Hand hielt, gab mir das ein tiefes, inneres Gefühl 
                der Zufriedenheit, das ich so noch nie zuvor empfunden hatte. 
                Denn ich hatte zum ersten Mal etwas gemacht, das mich einen Einsatz 
                gekostet hatte, etwas, das nicht das übliche Dahinsurfen 
                gewesen war. Und jetzt konnte ich studieren, was ich wollte. Das 
                Problem war, ich wusste nicht, was ich wollte. Also begann ich 
                an der Norwegischen Handelshochschule in Bergen, einer traditionsreichen 
                Institution mit hohem Prestige, ein Studium, von dem ich dachte, 
                es sei sicher nicht verkehrt. In Bergen begegneten mir ehrgeizige, 
                fleißige und angepasste Studenten, aber auch ein Milieu, 
                in dem Musik, Literatur und Theater eine große Rolle spielten 
                - vermutlich, weil das Studium so trocken und schrecklich langweilig 
                war.
 
 Eines Tages kam in der Mensa ein Typ auf mich zu, weil jemand 
                behauptet hatte, ich spiele Gitarre. Das stimmte nicht ganz, ich 
                beherrschte drei Griffe, die mir meine Kumpels von der Band in 
                Molde beigebracht hatten. Doch ich widersprach ihm nicht, da er 
                nach Leuten für eine Band Ausschau hielt. Also wurde ich 
                Gitarrist bei "De Tusen Hjem" (dt. "Tausend Zuhause"), 
                durfte mir eine E-Gitarre leihen und brachte den Bassisten dazu, 
                mir einige Griffe zu zeigen. "De Tusen Hjem" spielten 
                industriellen Heavy Metal-Lärm. Nicht die Sorte strukturierten, 
                intelligenten Heavy Metal, sondern die Art, die entsteht, wenn 
                man richtig schlecht spielt, genug Strom und große Verstärker 
                hat und in einem Keller übt. Es klang höllisch, und 
                die Sänger hörten einer nach dem anderen auf. Am Ende 
                blieben nur wir Instrumentalisten, und ich wurde ans Mikrophon 
                gescheucht. Die Texte der Coverversionen, die wir spielten, waren 
                meiner Ansicht nach nicht gerade der Hit, und ich fand, wir könnten 
                statt der Aneinanderreihung zorniger Akkorde ebenso gut Melodien 
                spielen. Also fing ich an, Musik zu schreiben. Unserer lokalen 
                Berühmtheit in den nordöstlichen Teilen von Bergen zum 
                Trotz, erlangte "De Tusen Hjem" nie die Weltherrschaft, 
                gab allerdings eine Single heraus, die häufig im Lokalradio 
                und mindestens einmal im Landesradio gespielt wurde und von der 
                25 Exemplare verkauft wurden. Als ich mein Studium abgeschlossen 
                hatte, war ich nicht nur Betriebswirt. Ich fing allmählich 
                an zu verstehen, was es eigentlich bedeutete, Poptexte zu schreiben.
 Ich ging nach Oslo und zog mit einer Frau zusammen, 
                begann in der Finanzbranche zu arbeiten und schrieb Musik. Eines 
                Abends hörte ein junger Jazzbassist, den ich aus Molde kannte, 
                einige der Melodien. Am folgenden Tag gründeten wir eine 
                Band. Wir hatten keine Aufträge, aber eines Abends nahmen 
                wir unsere Instrumente mit in die Kneipe, in der wir häufig 
                waren, taten so, als hätten wir eine Absprache mit dem Besitzer, 
                der an dem Abend nicht anwesend war, und begannen zu spielen, 
                ohne dass uns jemand aufhielt. Eine Woche später riefen sie 
                uns an und fragten, ob wir ein ordentliches Engagement haben wollten. 
                Jede Woche hatte unsere Band einen anderen Namen ("Nasse 
                og Nedfallsfruktene", dt. "Nasse und das Fallobst"; 
                "Pigs In Space"; "Joachim og Barnehagebrannen", 
                dt. "J. und der Kindergartenbrand" usw.), doch man sprach 
                von uns als "die Jungs da von letzter Woche" und damit 
                hatten wir schließlich den Namen "Di derre" (dt. 
                "die da"). Ein Jahr später gingen wir auf unsere 
                erste Tournee. Zwei Jahre später hatten wir einen Plattenvertrag. 
                Wir gaben ein Album heraus, das freundlich aufgenommen wurde, 
                sich aber bescheiden verkaufte. Doch die Leute kamen in unsere 
                Konzerte, nicht nur in Oslo. Etwas war im Gange, und als unser 
                zweites Album 1994 erschien, begann es zunächst vorsichtig, 
                dann schneller in der Hitparade nach oben zu klettern, bis es 
                auf einmal abhob und für viele Jahre zum meistverkauften 
                Album Norwegens wurde. Die Konzerte waren binnen Stunden ausverkauft. 
                Und wir waren plötzlich Popstars.
 Das Bemerkenswerte am Popstarsein ist, dass es sich schnell anfühlt 
                wie eine kleine "Antiklimax". Ich weiß nicht, 
                welche Erwartungen ich hatte, vielleicht gar nicht so viele, denn 
                ich wollte eigentlich nur Spaß haben und nicht so verdammt 
                berühmt werden. Weil unser erstes Album mindestens genauso 
                gut war wie das zweite, ohne nur annähernd den gleichen Verkaufserfolg 
                zu haben, fühlte sich der Durchbruch eher wie ein Zufall 
                an und nicht wie eine wirklich hervorragende Leistung. Auf der 
                anderen Seite, ich weiß ja auch nicht ...
 
 Was ich inzwischen wusste, war, dass ich nicht als Vollzeitmusiker 
                herumreisen wollte. Andere Bands, die ihr Hobby zum Beruf gemacht 
                hatten, lehrten mich, dass diese Art zu arbeiten zu viele Kompromisse 
                forderte, sowohl in der Musik als auch im restlichen Leben. So 
                hielt ich an meinem Job als Börsenmakler fest, während 
                wir spielten. Zusätzlich studierte ich nebenbei noch Finanzanalyse, 
                und als ich von DnB Markets, Norwegens größtem Aktienmakler, 
                abgeworben wurde, um deren Optionsabteilung aufzubauen, musste 
                ich mich auf zwei Jahre verpflichten. Ich hatte mit anderen Worten 
                ... viel zu tun. Im Laufe eines Jahres traten wir 180 mal im ganzen 
                Land auf und mein Leben sah folgendermaßen aus: bis Börsenschluss 
                im Büro sitzen, mit der Tasche auf dem Rücken raushetzen 
                und ein Taxi zum Flugplatz nehmen, zum Auftrittsort fliegen, wohin 
                der Rest der Band im Tourneebus gelangt war, Soundcheck, Essen, 
                eine Stunde Schlaf, bis gegen Mitternacht spielen und dann zurück 
                ins Hotel, während der Rest der Band feiern ging. Mit der 
                ersten Maschine am Morgen zurück nach Oslo, so dass ich beim 
                Börsenopening da war, arbeiten bis Börsenschluss, raushetzen 
                und ein Taxi zum Flugplatz erwischen ...
 
 Nach einem Jahr war ich so erschöpft, dass ich alles und 
                alle hasste, mit denen ich beruflich zu tun hatte, mich selbst 
                eingeschlossen. Ich sprach mit der Band und mit meinem Chef, ich 
                wollte ein halbes Jahr frei nehmen. Man war einverstanden, und 
                so setzte ich mich in ein Flugzeug, das mich so weit wie nur möglich 
                fort bringen würde, nach Australien. Einen PC nahm ich trotzdem 
                mit. Eine Mitarbeiterin eines Verlags hatte sich mit der Frage 
                an mich gewandt, ob ich mir vorstellen könne, ein Buch zu 
                schreiben, eine Reiseschilderung über das Leben unterwegs 
                mit "Di derre". Im darauffolgenden Denkprozess ging 
                mir vieles auf: Ich war bereit, den Sprung zu wagen vom Song-Texten 
                und von kurzen Erzählungen zu dem, woran ich eigentlich seit 
                meiner Kindheit gedacht hatte - nämlich einen Roman zu schreiben. 
                Es war in Wirklichkeit gar kein Sprung, es ging nur darum anzufangen. 
                Nein, es würde kein Reisebericht werden, weil es etwas mit 
                einem Schweinekopf auf einem Pfahl sein musste, eine Erzählung 
                über etwas, von dem Aksel Sandemose behauptete, es sei das 
                Einzige, worüber zu schreiben sich lohne: Liebe und Mord.
 
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Vor meiner Abreise machte ich ein paar Versuche, die ich in einem 
                frühen Stadium verwarf, weil sie nicht gut genug waren. Dann 
                flog ich nach Sydney. Der Flug Oslo-Sydney dauert rund dreißig 
                Stunden. Und in diesen dreißig Stunden dachte ich mir einen 
                Plot aus, und begann sofort nach meiner Ankunft in dem Hotel, 
                das ich von Oslo aus gebucht hatte, mit dem Schreiben. Es war 
                mitten in der Nacht, ich hatte Jetlag, und ich schrieb über 
                einen Typen, den ich Harry Hole nannte. Er landete auf dem Flughafen 
                von Sydney, checkte in demselben Hotel ein und hatte Jetlag ...
 Fünf Wochen lang folgten Harry und ich einander dicht auf 
                den Fersen. Von Sydney nach Nimbin, von einem Zirkuszelt zu einem 
                Striptease-Club, vom Aquarium zu Dragshows und hoch in 10.000 
                Meter Höhe über Newcastle, wo ich einen Fallschirmkurs 
                machte, alles, um mit Harry Schritt zu halten. Als ich aus Australien 
                zurückkam, hatte ich fast ein komplettes Buch geschrieben. 
                Kaum hatte ich den Koffer daheim abgestellt, machte ich schon 
                weiter, ein weiteres Mal mit Jetlag. Nach zwei Wochen war ich 
                fertig, und hinter mir lag ein intensives, alles vereinnahmendes 
                Erlebnis, während dessen sich alles um das Buch drehte, ich 
                kaum Kontakt zu anderen Menschen hatte, nur schrieb und schrieb 
                und durch Unterbrechungen wie Hunger oder Müdigkeit irritiert 
                war. Es waren die besten Wochen meines Lebens.
 
 Ich schickte das Manuskript an denselben Verlag, der mich um den 
                Reisebericht gebeten hatte. Allerdings unter einem Pseudonym, 
                um sicherzustellen, dass der Verlag nicht in Versuchung kam, womöglich 
                ein Scheißbuch von einem Popstar herauszugeben: Kim Erik 
                Lokker, ein Unsinnsname, den ich von einem meiner schuleschwänzenden 
                Kumpels aus der Kaffeestube entlieh. Kimer-i-klokker (dt. "Glockenläuten"). 
                Mit der Abgabe des Manuskripts ging auch meine Freistellung von 
                der Arbeit zu Ende. Ich kreuzte wieder im Büro auf, schaltete 
                den PC ein, und während der Bildschirm langsam zum Leben 
                erwachte und ich Ölpreise, Dollarkurs und Dow Jones erkannte, 
                ging es mir auf: Dass ich fast alles hatte. Eine Wohnung, abbezahlte 
                Schulden, einen überbezahlten Job und eine gute Band. Das 
                einzige, was mir fehlte, war Zeit. Mein Vater war ein Jahr zuvor 
                gestorben, im gleichen Jahr, in dem er pensioniert worden war 
                und er das Buch schreiben wollte, für das er Notizen gesammelt 
                hatte; das Buch über seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. 
                Aber die Zeit war ihm davon gelaufen. Und ich konnte nicht zulassen, 
                dass mir dasselbe geschah. Noch bevor der Bildschirm ganz da war, 
                stand ich im Büro meines Chefs und erklärte ihm, dass 
                ich nicht mehr die Zeit hätte, bei ihm zu arbeiten.
 
 In den folgenden drei Wochen lief ich rastlos umher und fragte 
                mich, worauf ich aus war. Ich wollte nicht nur spielen und spielen. 
                Ich konnte aufwachen und mich fragen, was um alles in der Welt 
                das für eine Entscheidung war, die ich da getroffen hatte. 
                Aber es war meiner, ich hatte etwas sehr Wichtiges für mich 
                entschieden. Oder etwa nicht? Und inmitten dieser Zweifel klingelte 
                eines Vormittags das Telefon und ich wurde gefragt, ob Kim Erik 
                Lokker am Apparat sei. Ich war zunächst verwirrt, da ich 
                die Sache mit dem Manuskript beinahe vergessen hatte. Denn der 
                Prozess des Schreibens hatte an einem ganz anderen Ort, in einem 
                ganz anderen Zustand stattgefunden, und in Gedanken wälzte 
                ich andere Schreibprojekte. Ich bekam einen knappen Bescheid, 
                dass man aus dem Manuskript gerne ein Buch machen wolle.
 
 Nachdem ich aufgelegt hatte und mir die Bedeutung dieses Anrufs 
                klar geworden war, lief ich nach draußen, bestieg mein Fahrrad 
                und fuhr drauf los. Und als ich auf dem Rathausplatz angekommen 
                war, machte ich meiner Freude zum Vergnügen der fliegenden 
                Möwen und der perplexen Touristen in einem lauten Schrei 
                Luft.
 "Also ist Kim Erik Lokker ein Pseudonym?" sagten sie, 
                als ich zum ersten Treffen im Verlag erschien.
 "Ja, weil ich nicht ganz ... äh, unbekannt bin."
 "Oh? Wie heißen Sie denn?"
 Ich sagte es ihnen, aber niemand zeigte eine Reaktion. Da räusperte 
                ich mich und erklärte, dass ich der Sänger einer bekannten 
                Band sei. Noch immer keine Reaktion. Also nannte ich den Namen 
                der Gruppe. Zwei der Anwesenden nickten beifällig und einer 
                fing an, einen Song zu summen. Den einer anderen Band.
 
 Im Herbst 1997 erschien "Der Fledermausmann" unter meinem 
                Namen, und ich wartete mit gemischten Gefühlen darauf, dass 
                die Kritiker den Poptypen verrissen, der es wagte, einen Krimi 
                zu schreiben! Aber es sollte sich zeigen, dass ich derjenige war, 
                der voreingenommen war. Die Buchbesprechungen waren sachlich, 
                seriös und befassten sich mit dem Buch, nicht mit meiner 
                Person. Und das allerbeste war: Das Buch kam an. Ich war im siebten 
                Himmel. Nicht in erster Linie, weil einige Rezensenten das Werk 
                gemocht hatten, sondern weil so viele Menschen das Buch erwarben, 
                dass der Verlag ein weiteres haben wollte. Jetzt konnte ich mich 
                einfach aufs Schreiben konzentrieren.
 
 Im Winter 1998 fuhr ich nach Bangkok, mit einer Skizze zu dem, 
                was "Die Kakerlaken" (erscheint im Herbst 2006 erstmals 
                auf Deutsch) werden sollte. Auf einem Fest in Oslo hatte ein Bekannter 
                mich eingeladen, in seinem gediegenen Apartment in Bangkok zu 
                wohnen, das Norsk Hydro für ihn gemietet hatte. Beim Verlassen 
                des Flugzeugs war es, als würde mir ein warmes, nasses und 
                schmutziges Handtuch ins Gesicht geschleudert: heiß, feucht 
                und dreckig. Und der Lärm! Ich wusste, dass das nicht funktionieren 
                konnte; ich sollte zwei Monate an diesem Ort verbringen und hatte 
                schon nach einer Minute einen klaustrophobischen Anfall. Zwei 
                Wochen später war ich verliebt in die Stadt, hörte den 
                Lärm nicht mehr, liebte den Schweiß und war der Auffassung, 
                dass Luft einen Geruch, Geschmack und Farbe haben musste. Und 
                wieder folgte ich Harrys Fußstapfen - oder er den meinen 
                - nach Chinatown, auf die Schiffe am Chao Phraya-Fluss, in die 
                Go-Go-Bars in Patpong.
 
 "Die Kakerlaken" habe ich in einer brodelnden Stadt, 
                in einer einschneidenden Phase und sehr konzentriert geschrieben, 
                dennoch war es kein so intensives Erlebnis wie bei "Der Fledermausmann". 
                Ich sah ein, dass ich das Schreiben vielleicht niemals wieder 
                so erleben würde wie beim ersten Mal, weil es nur ein erstes 
                Mal gibt. Andererseits entdeckte ich, wieviel ich durch das erste 
                Buch gelernt hatte, dass ich handwerklich besser geworden war 
                und plötzlich ein paar Sachen über Dramaturgie wusste. 
                Gleichzeitig hatte ich einen gewissen Druck. Denn nun wusste ich, 
                dass ich schreiben wollte. Gleichzeitig konnte ich nicht davon 
                ausgehen, nach "Die Kakerlaken" selbstverständlich 
                weitere Bücher zu veröffentlichen. "Der Fledermausmann" 
                war gut angekommen und hatte sich zufriedenstellend verkauft, 
                ich wusste jedoch aus der Plattenbranche, dass das Gedächtnis 
                des Publikums nicht das beste ist. Sollte "Die Kakerlaken" 
                ein Flop werden, dann konnte ich wieder von vorne anfangen. Ich 
                musste wieder etwas Gutes zustandebringen!
 Nach meiner Rückkehr aus Bangkok rief der Verlag an und teilte 
                mir mit, dass "Der Fledermausmann" als bester norwegischer 
                Kriminalroman 1997 den Rivertonpreis erhalten hatte. Natürlich 
                war ich darüber erfreut, aber auch ein bisschen skeptisch. 
                Es war doch so leicht gewesen! "Der Fledermausmann" 
                war ein körperlicher und mentaler Trip gewesen, war in so 
                kurzer Zeit geschrieben worden, dass ich das Gefühl hatte, 
                schwindeln und ein paar Monate auf die sieben Wochen aufschlagen 
                zu müssen, als der Verlag mich zum ersten Mal fragte, wie 
                lange ich dafür gebraucht hatte. Also zählte ich nach, 
                wie viele norwegische Kriminalromane in dem Jahr herausgekommen 
                waren, zog die Autoren ab, die den Preis bereits erhalten hatten, 
                denn ich wusste, dass man ihn nur einmal bekommen konnte. Dann 
                zog ich die Romane ab, die in den Besprechungen schlecht weggekommen 
                waren, und so fand ich heraus, dass ich den Preis nach einer Art 
                Ausschlussprinzip bekommen haben musste.
 Einen Monat später erhielt ich den Bescheid, dass "Der 
                Fledermausmann" auch den "Glassnøkkel" (dt. 
                "der Glasschlüssel") als bester skandinavischer 
                Kriminalroman bekommen sollte. Vielleicht sollte ich das Grübeln 
                besser lassen und die Gunst der Stunde nutzen. Es war ja wenig 
                wahrscheinlich, dass ich so etwas noch einmal erleben würde.
 
 Als ich die Überschrift im Dagbladet zu "Die Kakerlaken" 
                las, dachte ich, dass genau das richtig war. Ich hatte meinen 
                ersten Verriss in der Hand. Als die Leute vom Verlag etwas später 
                anriefen und mir zu der Kritik in der Zeitung gratulierten, hörte 
                ich nicht richtig zu, denn ich wusste, das Dagbladet hatte Recht; 
                nach "Der Fledermausmann" war das Buch eine Enttäuschung. 
                Es half nicht, dass andere Zeitungen freundlich reagierten. Als 
                ich die Nachricht erhielt, "Die Kakerlaken" sei als 
                Haupttitel im Buchklub Nye bøker - einem Nadelöhr 
                auf dem Weg zur kommerziellen und literarischen Elite in Norwegen 
                - angenommen worden, da wusste ich, dass mich eigentlich der Vorläufer, 
                "Der Fledermausmann", qualifiziert hatte. Ich setzte 
                mich hin und versuchte herauszufinden, welche Fehler ich gemacht 
                hatte. Ich schrieb besser, ich wusste mehr über Dramaturgie 
                und mit Harry Hole hatte ich eine interessante Hauptfigur. Dass 
                "Der Fledermausmann" so leicht zu schreiben gewesen 
                war, hatte mich glauben gemacht, Schreiben sei grundsätzlich 
                einfach und stilisierte Szenen und Effekte könnten die Verankerung 
                der Handlung im menschlichen Gefühlsleben ersetzen. Nun hatte 
                ich Vorbilder, unter anderem mein Erstlingswerk. Ich hatte versucht, 
                einen "Kriminalroman" zu schreiben. Ich hatte die für 
                dieses Genre scheinbar geltenden Regeln zu ernst genommen. Insgesamt 
                zu viel Hirn und zu wenig Herz.
 
 Dann setzte ich mich hin und begann, "Rotkehlchen" zu 
                schreiben. Den Roman, den eigentlich mein Vater hätte schreiben 
                sollen. Über die Norweger, die während des Zweiten Weltkriegs 
                gegen die Nationalsozialisten, und die, die für sie gewesen 
                waren. Über die Selbstverklärung eines Volkes vereint 
                im aktiven Widerstand gegen Hitler. Darüber, wie Menschen 
                sich für eine Seite entscheiden, und über das Recht 
                des Siegers, Geschichte zu schreiben. Es war das erste Buch, in 
                dem ich die Haupthandlung nach Oslo verlegte. Dann führte 
                ich den Prinzen als Gegenspieler ein und mit ihm das große 
                Komplott innerhalb der Polizei, das Harry über mehrere Bücher 
                hinweg begleiten sollte. Außerdem ist dieser Krimi das erste 
                Buch mit wechselnder "Kameraperspektive". Der Leser 
                sieht nicht ausschließlich alles mit Harrys Augen. Ich führte 
                verschiedene Stimmen ein und beschrieb unterschiedliche Weltbilder, 
                während die Geschichte gleichzeitig räumlich und zeitlich 
                komplexer wurde. Ich arbeitete Bücher, Artikel und Werke 
                zur Geschichte durch und interviewte Frontsoldaten und Leute aus 
                dem Widerstand. Die Ergebnisse all dieser Recherchen mussten angepasst 
                und überprüft werden. Wenn man das Schreiben der ersten 
                beiden Bücher damit vergleicht, alleine Gitarre zu spielen, 
                dann galt es jetzt, ein Symphonieorchester zu dirigieren. Gleichzeitig 
                ging vieles beim Schreiben leicht von der Hand, denn das meiste, 
                was ich über die Front bei Leningrad und das Krankenhaus 
                in Wien schrieb, entsprach den Tatsachen; es war nicht die Kunst, 
                die das Leben imitierte, sondern ein so umfassendes Abbild der 
                Wirklichkeit wie möglich. Es ging weniger darum, einen guten 
                Roman zu schreiben, als darum, eine gute Geschichte nicht kaputt 
                zu machen. Schon ehe ich "Rotkehlchen" begann, wusste 
                ich, dass ich den kostbaren historischen Stoff verwenden musste, 
                von dem ich spürte, dass er meiner war und zwar ausschließlich 
                meiner. Ich wusste, die vorangegangenen Bücher waren in vielerlei 
                Hinsicht Fingerübungen dafür gewesen, das Handwerk gut 
                genug zu beherrschen, um auf den kostbaren Marmorblock nun mit 
                Hammer und Meißel loszugehen.
 
 Es war Himmel und Hölle gleichzeitig. Als ich mit dem Schreiben 
                fertig war, wusste ich, wenn dieses Buch verrissen würde 
                oder ich nicht damit durchkäme, dann würde ich aufhören 
                und einen neuen Weg einschlagen müssen. Denn "Rotkehlchen" 
                war schlicht und ergreifend das Beste, was ich hatte. Nach Erscheinen 
                des Buches und der positiven Resonanz war ich vor allem erleichtert. 
                Der Verlag war begeistert, die Rezensenten waren begeistert, das 
                Publikum war begeistert und das Buch erhielt den Buchhändlerpreis 
                2000 als bester Roman.
 
 Nun kann man selbstverständlich einwenden, dass Absatz, Rezensionen 
                und Preise nicht die einzigen Kriterien sind, die einen künstlerischen 
                Erfolg definieren. Das ist sicher richtig, doch die anderen sind 
                schwieriger auszumachen. Und wenn es dein Anliegen ist, für 
                Menschen zu schreiben, und einige Leute unaufgefordert behaupten, 
                dass sie einen Gewinn aus der Lektüre gezogen haben, musst 
                du die Arme triumphierend nach oben reißen und es einfach 
                annehmen. Ich jedenfalls tat das.
 
 "Die Fährte", erschienen 2002, spielt fast ausschließlich 
                in Oslo, genauer gesagt in der Straße, in der ich lebte. 
                Und noch genauer gesagt in dem Mietshaus, in dem ich wohnte. Der 
                Roman beginnt mit einem Banküberfall, bei dem der Räuber 
                droht, eine Bankangestellte zu erschießen, wenn sie nicht 
                innerhalb von fünfundzwanzig Sekunden den Safe öffnet. 
                Er beginnt zu zählen. Der Räuber hält der Überwachungskamera 
                sechs Finger entgegen. Die Frau hat sechs Sekunden zu lang gebraucht. 
                Er schießt ihr in den Kopf, schnappt sich das Geld und macht 
                sich davon. Dann wird Harry durch den Mord an einer weiteren Frau 
                persönlich in den Fall hineingezogen, denn mit dem Opfer 
                hatte er mehrere Jahre zuvor eine Liebesbeziehung. Und der Kampf 
                zwischen Harry und seinem Gegenspieler, dem Kollegen Tom Waaler, 
                geht weiter. "Die Fährte" ähnelt "Rotkehlchen" 
                in Aufbau und Erzähltechnik weitaus mehr als den ersten Harry-Hole-Büchern.
 
 Der Roman wurde gut aufgenommen und erhielt den William Nygaard-Preis. 
                Ich begann mit dem nächsten Buch über Harry Hole, noch 
                bevor "Die Fährte" erschienen war. "Das fünfte 
                Zeichen" knüpft da an, wo "Die Fährte" 
                geendet hatte: Der Schauplatz ist Oslo während einer Hitzewelle 
                im Juli und der Widerpart zu Hole ist erneut Tom Waaler. "Das 
                fünfte Zeichen" schildert den für uns Skandinavier 
                seltenen Fall eines Serienmörders. Es geht in der Beschreibung 
                von Oslo weiter als die anderen Bücher, außerdem werden 
                indirekt Teile von Waalers persönlichem Hintergrund skizziert. 
                Dennoch bleibt dieser ein Rätsel. Der Konflikt zwischen Harry 
                Hole und Tom Waaler - einer Person, die Harry in vielerlei Hinsicht 
                sehr ähnlich ist und dessen eigene Psyche ein moralisches 
                Dilemma widerspiegelt - legt es nahe, "Rotkehlchen", 
                "Die Fährte" und "Das fünfte Zeichen" 
                als Oslo-Trilogie anzusehen."
 
 Ich war hochgradig aufgeregt, als ich Der Erlöser abschloss, und es erstaunte mich nicht
                wenig, bei diesem Buch auf so viel Widerstand beim Verlag zu stoßen, wie bei keinem
                anderen zuvor. Ich hatte den Roman bereits um fast 100 Seiten gekürzt und straffte ihn noch
                weiter, wobei mir die neue Version derart zurechtgestutzt und auf den Strunk reduziert
                vorkam, dass ich befürchtete, den Roman umgebracht zu haben. Vielleicht belastete es mich,
                dass wir nach dem Erfolg von Das fünfte Zeichen meinten, von allen Seiten würden ständig
                steigende Erwartungen an uns herangetragen. Dazu kam, dass Das Rotkehlchen vom
                Norwegischen Rundfunk NRK und den Buchclubs zum besten norwegischen Krimi aller
                Zeiten gekürt worden war, so dass mit einem Mal ein tiefer Fall möglich war. Aufregung und
                böse Vorahnungen begleiteten deshalb die Veröffentlichung von Der Erlöser im Herbst 2005.
 Die Rezensenten fielen geradezu über das Buch her und brachen alle Rekorde: die erste Kritik
                erschien bereits einen Tag nach dem Erscheinen. Es war ein Samstag und mein Verleger rief
                mich an, um mich zu warnen. In der Zeitung Dagsavisen war eine sehr verhaltene Rezension                veröffentlicht worden. Für gewöhnlich ist ein Verriss ein Omen für weitere. Ich hatte also das
                Wochenende, um mich für das zu wappnen, was noch kommen würde. Als ich mich am
                Montagmorgen im Spiegel betrachtete, wusste ich, dass fünf Tage mit Interviews vor mir
                lagen und ich bis Freitag fünf Jahre älter aussehen würde. Doch als sich der Staub gelegt
                hatte, war das Fazit klar: die schlechte Kritik im Dagsavisen war die einzige geblieben und
                die anderen waren - mit einem Wort – überwältigend. Auch die Reaktion der Öffentlichkeit
                ließ nicht auf sich warten. Mein Verleger rief mich an und berichtete mir, Der Erlöser sei in
                der Geschichte des Verlags der Roman mit dem schnellsten Abverkauf (heute hat er beim
                Aschehoug-Verlag die höchsten Verkaufszahlen überhaupt erreicht). Fünf Tage waren
                vergangen und man durfte das Buch – in Ermangelung treffenderer und umfassenderer Worte                – bereits einen fantastischen Erfolg nennen. Ich erinnere mich noch daran, mir damals selbst
                versprochen zu haben, diesen Augenblick ohne das schlechte Gewissen oder die Paranoia zu
                genießen, die extrem schöne Frauen mitunter befällt, und sie glauben lässt, nur aus Gründen
                geliebt zu werden, die sie eigentlich selbst verachten.
 
 Das Jahr 2006 verbrachte ich mit dem Schreiben einiger Songtexte für De Derre’s letztes und                ‚Best of’-Album sowie unserer Abschiedstournee, die zu einer emotionalen Begegnung mit
                einem großen treuen Publikum wurde. Dabei entdeckte ich jedoch etwas Neues: Ich war im
                Bewusstsein der Menschen kein Musiker mehr, der Bücher schrieb, sondern ein Autor, der in
                einer Band spielte.
 
 Als ich mich an das nächste Harry-Hole-Buch Schneemann setzte, bemerkte ich, dass die
                Dinge mit einem Mal im Ausland passierten. Immer häufiger rief mich mein Agent an und in
                der Post waren mehr und mehr Angebote aus Ländern, die weiter und weiter von Norwegen
                entfernt lagen. Während ich dies hier schreibe, im Frühjahr 2007, sind meine Harry-Hole-Romane in mehr als 20 Sprachen übersetzt – dabei ist es für mich noch immer ein Kick, wenn
                ein Buch mit der Post kommt und das einzige, was ich davon lesen kann, mein eigener Name
                auf dem Titel ist.
 
 Im Juni 2007 kam Schneemann heraus. Es war geradezu unerhört, dieses Buch mitten im
                Sommer herauszubringen, noch dazu, da im Bücherland Norwegen eine Art stille                Übereinkunft besteht, dass Titel, die sich vermutlich gut verkaufen, im Herbst erscheinen.
 Und dann auch noch „Schneemann“, war das unser Ernst? Oh ja, das war es!
                Ein paar Zeilen über den Anfang des Buches: Es ist November in Oslo und der erste Schnee
                ist gefallen. Birte Becker kommt von der Arbeit nach Hause und lobt den Schneemann, den
                ihr Mann und ihr Sohn im Garten gebaut haben. Die beiden haben aber gar keinen
                Schneemann gebaut. Als die Familie durch das Wohnzimmerfenster staunend den
                Schneemann betrachtet, bemerkt der Sohn, dass dessen Gesicht dem Haus zugewandt ist. Die
                schwarzen Augen sind auf das Fenster gerichtet. Starren sie an.
 
 Hauptkommissar Harry Hole erhält einen anonymen Brief, der mit Der Schneemann
                unterzeichnet ist. Etwas später findet er einen alarmierenden roten Faden in alten Akten über
                vermisste Personen. Verheiratete Frauen werden am Tag des ersten Schnees als vermisst
                gemeldet. In genau dieser Nacht kämpft sich Sylvia Ottersen in einem Wald bei Oslo durch
                den ersten Schnee. Sie weiß, dass sie um ihr Leben rennt, aber sie weiß nicht, wovor sie flieht.
                Genauso wenig, wie sie weiß, was vor ihr liegt. Zum Glück.
                Wieder waren die Rezensionen positiv und Schneemann sollte der Roman mit dem
                schnellsten Abverkauf in Norwegens Geschichte werden.
 Und zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte ich so etwas wie einen Sommerurlaub. Er sollte
                nicht sehr lange dauern.
 
 Schon seit vielen Jahren schwirren Ideen zu einem Kinderbuch in meinem Kopf herum. Es
                fing damit an, dass meine Tochter mich wie immer darum gebeten hatte, während des Essens
                eine Geschichte zu erzählen. Also erfand ich Nilli – einen kleinen rothaarigen Zehnjährigen
                mit einer Elvis-Tolle, ein Sprücheklopfer, der einem Gebrauchtwagenhändler alle Ehre
                gemacht hätte; seine Nachbarin und Freundin Lise; zwei dicke unangenehme Zwillinge mit
                einem Hummer-fahrenden Vater und einen halbverrückten Professor, der durch Zufall das
                wirksamste Pfurzpulver der Welt erfunden hat. Auf meine Bitte hin fragte der Verlag Per
                Dybvig persönlich, ob er Lust hätte, die Illustrationen zu der Geschichte zu machen – und er
                sagte zu! Als wir uns schließlich bei meinem Verleger trafen und er mir seine ersten
                Zeichnungen zeigte, platzte ich vor lauter Aufregung heraus, dass ich mir die Lehrerin
                Fräulein Strobe genau so vorgestellt hätte! Es wurde still im Raum. Schließlich hüstelte Per
                und sagte, es sei eine Zeichnung von Professor Doctor Proctor. Es wurde stiller als still,
                während ich meinen Kopf schräg legte, genauer hinsah und sagte: „Jetzt, wo ich darüber
                nachdenke – genau so habe ich mir auch Doctor Proctor vorgestellt.“ Alle lachten. Das
                Seltsame daran war, dass ich es wirklich ernst meinte.
 Doctor Proctors Pfurzpulver erschien im Oktober und ich war neugierig, was die Kritiker
                darüber schreiben würden. Immerhin war das ein Erstlingswerk, das sie zerreißen konnten.
                Meine Sorgen stellten sich als völlig unbegründet heraus. Das Buch wurde mit einstimmiger
                Begeisterung angenommen. Doctor Proctor wurde für den ARK Kinderbuchpreis 2007
                nominiert und die Verkaufszahlen hoben ab, vermutlich unterstützt durch eine Talkshow, in
                der ich auftrat und für die Mr. Methan eingeflogen wurde: ein langer, dünner Mann in grünem
                Superman-Outfit. Er löscht die Kerzen auf Geburtstagskuchen und singt Lieder mit seinen
                lauten Blähungen. Ein Viertel der norwegischen Bevölkerung, ich eingeschlossen, lachte
                Tränen.
 Im November 2007 veröffentlichte ich eine längere Kurzgeschichte mit dem Titel Das Weiße
                Hotel. Die Erlöse aus dem Verkauf gingen komplett an das Projekt „Redd Barna“ [Rettet die
                Kinder]. Ich höre Sie schon gähnen, weil sie bestimmt von mir erwarten, dass ich Ihnen jetzt
                sage, wie außerordentlich brillant die Kritiken darüber ausfielen. Nun, es gab nur eine einzige
                Rezension. Der Kritiker mochte das Projekt, aber keineswegs den Beitrag des Autors. Ich las
                die Kritik zweimal und ich muss zu meinem Bedauern einräumen, dass darin einige
                berechtigte Punkte waren.
 
 Doch 2007 war ein fantastisches Jahr für mich. Ich erhielt zum zweiten Mal den Preis des
                Buchhandels, dieses Mal für Schneemann. Während ich dies schreibe, ist er auf der
                norwegischen Bestsellerliste, während sich Der Erlöser seit zwei Jahren auf der Liste der
                Paperbacks hält. Außerdem haben es Harry-Hole-Bücher auch im Ausland auf die Listen
                geschafft. Was macht man also, wenn alles so prima läuft? Genau – man beginnt mit etwas
                ganz Neuem, damit man wieder das Gefühl hat, ein Risiko einzugehen, und dafür eine neue
                Welt entdecken zu müssen. Dabei ist mir bewusst, dass die Angst vor dem Versagen den
                Genuss eines möglichen Erfolgs nur steigert. Dieses Mal ist es die Geschichte eines Head-Hunters in einer Agentur. Er benutzt das Neun-Stufen-Modell des FBI für
                Bewerbungsgespräche und ist mit einer Frau verheiratet, die viel zu schön ist für seinen
                Geldbeutel. Also hilft er seinen Finanzen mit Kunstdiebstählen auf die Sprünge. Eines Tages
                kommt ein Holländer zum Bewerbungsgespräch, der – wie sich herausstellt - ein vermisstes
                Rubens-Meisterwerk zu Hause an der Wand hängen hat…
 Ich bin auf dem Sprung nach Asien, um daran zu arbeiten. Aber ich werde auch mit einem
                neuen Harry Hole beschäftigt sein. Zu ihm komme ich immer wieder zurück. Es ist schwierig,
                das Wichtigste an diesem Protagonisten so vieler meiner Bücher mit wenigen Worten
                zusammenzufassen, aber es gibt ein paar Charakterzüge an ihm, die für mich beim Schreiben
                wichtig sind: Er ist der Typ Mensch, der gleichermaßen von seinen lichten und seinen                dunkleren Seiten getrieben wird. Er glaubt an seine Rolle als Verfechter von Gesetz und
                Ordnung – bezweifelt sie gleichzeitig aber auch. Wenn ihn seine Gefühle gepackt haben,
                können sie seinen Glauben an einen durch das Gesetz geregelten Staat überrollen. Er stellt
                seine Nachforschungen mit solchem Hass an und kämpft so mühsam darum, seinen
                Rachedurst in den Griff zu bekommen, dass er bisweilen in Verwirrung über seine Gegner
                gerät. Dann wieder hat er plötzlich Mitgefühl oder gar Sympathie mit dem Gesetzesbrecher.
                Harry Hole ist ein Held mit offensichtlichen Schwächen. Alle interessanten Helden haben
                eine Achillesferse. In Harrys Fall ist das der Alkohol.
 Uns geht es vielleicht wie der Frau, die durch den Schnee stolpert. Möglicherweise ist es
                unser Glück, nicht zu wissen, was uns hinter der nächsten Ecke erwartet. Ich bin auf alle Fälle
                froh darüber, dass ich es nicht weiß. Aber ich weiß, was mit Harry passiert. Und davon
                möchte ich Ihnen erzählen…
 
 Jo Nesbø über ,,Leopard:
 In ,,Leopard" geht es sehr stark um Harry Holes Beziehungen, vor allem die zu seinem Vater,
                der sterbend im Krankenhaus liegt und zu dem er bis jetzt keine richtige Bindung hatte.
                Es geht aber auch um einen internen Krieg der Polizei und die Frage, welche Abteilung in
                Zukunft mit den Ermittlungen bei Mordfallen beauftragt wird. Die Lösung des aktuellen Falls
                ist dafür entscheidend und wird deswegen zu einem Wettkampf zwischen den rivalisierenden
                Abteilungen. Harry, der eigentlich nicht der Typ ist, der sich irgendjemand gegenüber
                verpflichtet fühlt, und der bei der Polizei immer ein Einzelgänger war, steht vor der Frage, ob
                er sich seiner Abteilung gegenüber loyal verhalten soll und zu ihrem Erhalt beitragen. Wir
                werden sehen, wie er sich entscheidet.
 
 Dieses Buch erzählt mehr über Harry als irgendeiner der früheren Bände. Meine
                Aufmerksamkeit galt vorrangig dem Plot, und ich habe immer darauf geachtet nicht zu viel
                Privates über meine Hauptfiguren zu schreiben. In ,,Leopard" musste ich mehr von Harry
                preisgeben, weil er sich beruflich und privat an einem Punkt befindet, der Veränderungen und
                wichtige Entscheidungen von ihm verlangt. Wem ich die Geschichte in ein paar Jahren noch
                mal lese, werde ich vermutlich feststellen, dass sie sehr viel mit meinem eigenen Leben zu tun
                hat. Irn Moment denke ich allerdings, es geht nur um Harry.
 
 Autor: Jo Nesbø
 © Ullstein Buchverlage - Januar 2010 - Vielen Dank für die Veröffentlichungserlaubnis
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