|  Kapitel 1 LeseprobeDer Winter wollte dieses Jahr nicht weichen. Unablässig drangen 
          eisige Winde vom Meer durch die dicken Mäntel, durch Mark und Bein, 
          und die Dunkelheit lag wie eine schalldämmende Decke über 
          den Bewohnern der mittelgroßen Stadt. Glücklicherweise hatte 
          es Heiligabend geschneit, so dass der frische Schnee kurzzeitig zur 
          Aufhellung des Stadtbildes beigetragen hatte. Sonst waren die Tage seit 
          Wochen überwiegend matschig und schmutzig nassgrau und verbreiteten 
          schier endlosen Trübsinn. Die Frage, ob eine neue Eiszeit im Anzug 
          sei oder nicht, war in aller Munde und stand als unverfängliches 
          Gesprächsthema an erster Stelle. Viele hatten sich nicht anders 
          zu helfen gewusst, als ihr Sparschwein zu Gunsten einer Reise in den 
          Süden zu plündern. Nach ein, zwei Wochen kamen sie dann mit 
          einer knackigen Bräune zurück, die in grellem Kontrast zur 
          graubleichen Hautfarbe der Zurückgebliebenen stand.Selbst Veronika hatte sich zum ersten Mal in ihrem Leben ernsthaft nach 
          einem richtigen Badeurlaub gesehnt, Mallorca, Kanarische Inseln, Costa 
          del Sol, Licht und Wärme und eine ausreichende Dosis Müßiggang, 
          um aufzutauen. Aber sie wollte noch bis April warten, um ihre gerade 
          erst ausgeflogene Tochter Cecilia zu besuchen, die in Spanien studierte. 
          So blieb ihr zumindest die Vorfreude.
 Eine nagende Schwermut ergriff langsam aber sicher von ihr Besitz. Sie 
          hatte vor dieser depressiven Stimmung so lange wie möglich die Augen verschlossen, aber jetzt ließ es sich 
          nicht länger leugnen, dass ihr Leben immer eintöniger wurde. 
          Seit Cissis Umzug nach Spanien war das noch deutlicher zu erkennen.
 Ein Tag nach dem anderen verging, und sie verlebte diese Tage mit der 
          mechanischen Präzision eines gut geölten Uhrwerks. Im Großen 
          und Ganzen tat sie, was von ihr erwartet wurde, und manchmal auch mehr. 
          Unbestreitbar gab es in ihrem Leben so gut wie keine Überraschungen 
          mehr, und in Momenten der Selbstanalyse, die sie in letzter Zeit immer 
          häufiger heimsuchten, fragte sie sich, wie es dazu hatte kommen 
          können. War das der unabänderliche Gang des Lebens? Wurde 
          alles immer lauer, langweiliger und vorhersehbarer? Oder fehlte ihr 
          etwas? Sie fragte sich auch, ob es nicht schon immer so gewesen war, 
          aber früher war sie immer so beschäftigt gewesen und hatte 
          keine Zeit zum Nachdenken gehabt, auch nicht über ihre Gefühle.
 Also sah Tyra Blomstrand durch ihr Küchenfenster, wie Veronika 
          auch an diesem Donnerstag, dem 11. März, um Viertel vor sieben 
          wie jeden Morgen ihr Fahrrad aus der Garage schob. Sie war passend gekleidet, 
          dunkelblauer Trainingsanzug, der Wind und Nässe abhielt. Auf dem 
          Kopf trug sie einen optimistisch zitronengelben Helm, auf dem schwarz 
          der Markenname Crescent stand.
 Tyra goss ihrem Mann Karl-Henrik Kaffee ein.
 "Pünktlich", meinte sie ungerührt.Karl-Henrik schaute von der Zeitung auf. Durchs Küchenfenster verfolgte 
          er, wie Veronika das Garagentor mit einem kräftigen Tritt schloss. 
          Dann schwang sie sich aufs Rad und fuhr energisch wie immer in der Morgenkälte 
          die menschenleere Straße entlang, bis ihr gelber Helm aus seinem 
          Blickfeld verschwand.
 Veronika kreuzte die stark befahrene Nord-Süd-Umgehung und kam 
          am Industriegebiet vorbei. Der langweilige Teil der Strecke. Vor dem 
          langen Hang zum Wohnviertel Kastanie schaltete sie runter. Am Himmel 
          breitete sich plötzlich ein zartes, eisblaues Licht aus, das sich 
          über den sauber gewaschenen Asphalt und die Gärten mit dem 
          Raureif legte. Dieses alles überwältigende Morgenlicht bringt 
          doch jeden, der im Winterdunkel gelebt hat, dazu, über den Sinn 
          des Lebens nachzudenken, dachte sie verzückt und gleichzeitig wehmütig.
 Sie beugte sich über den Lenker, um die letzten Meter des Hangs 
          zu bezwingen. Endlich wurde auch die Vorderseite ihrer Oberschenkel 
          warm. Ihr Gesicht war gerötet. Im Takt mit den rhythmischen Atemzügen 
          flogen ihre Gedanken unbehindert.
 In diesem kurzen Augenblick ging es Veronika ausgezeichnet.
 Am Himmel zogen schnelle, ausladende Wolken dahin und schoben sich vor 
          die Sonne, wieder war alles grau, und die Luft war schneidend kalt. 
          Beider Fahrschule Enlund, die in einem unanständig hässlichen 
          Anbau von Herrn Enlunds hübschem gelbem Holzhaus untergebracht 
          war, bog sie nach rechts ab. Oft hatte sie sich überlegt, welche 
          Kontakte zur Baubehörde nötig waren, um so ein Ungetüm 
          aus weißen Betonklinkern errichten zu dürfen.
 Als sie an der Fahrschule vorbeifuhr, breitete sich ein neues Licht 
          aus, dieses Mal ein wärmerer Farbton, und sie war plötzlich 
          überzeugt, dass der Frühling auch in diesem Jahr kommen würde, 
          obwohl sie das kaum zu hoffen wagte. Sie legte den fünften Gang 
          ein, nachdem die Anhöhe hinter ihr lag, und fuhr ziemlich schnell. 
          Durch die Nase atmend nahm sie den angenehmen Geruch von trockenem Asphalt 
          wahr, und mitten in diesem neu erwachten Frühlingsgefühl regte 
          sich ein vertrauter Gedanke: Sie wollte sich von ihrem Nachnamen trennen. 
          Lundborg-Westman war immer sperrig und unpraktisch gewesen. Eigentlich 
          hatte ihr dieser Doppelname, den kein vernünftiger Mensch behalten 
          konnte, nie gefallen. Außerdem war es vollkommen idiotisch, alle 
          diese Buchstaben mit sich herumzuschleppen schließlich war sie 
          geschieden.
 Lundborg, ihr Mädchenname, reichte. Heute wollte sie sich darum 
          kümmern, und sie nahm sich vor, beim Einwohnermeldeamt anzurufen 
          und sich ein Formular schicken zu lassen.
 Am selben Morgen saß Schwester Beata Mohn am Schreibtisch im 
          Schwesternzimmer auf der Station sechs, Chirurgie, die im sechsten Stock 
          des Zentralblocks der Klinik lag. Flink sortierte sie Blätter in 
          die Krankenakten der Patienten ein, die in der Nacht eingeliefert worden 
          waren. Laborergebnisse, Röntgenbefunde, Epikrisen, EKG-Befunde 
          und eventuelle Blut- und Urintestergebnisse. Schwester Beata sang leise, 
          aber alles andere als richtig, eine schmachtende Arie aus Händels 
          "Rinaldo". Die Melodie war ihr im Gedächtnis geblieben, 
          als sie sich vorletztes Wochenende zusammen mit Henrik das Video eines 
          Widerberg-Films angeschaut hatte.
 
 
                  
 
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                    |  |   Beata fühlte sich ausgeruht und energiegeladen, da sie am Vorabend 
          ungewöhnlich früh zu Bett gegangen war, und der Stress auf 
          Station ließ noch auf sich warten. Außerdem hatte sie etwas, 
          worauf sie sich freuen konnte. Henrik würde schon an diesem Abend 
          kommen, obwohl es erst Donnerstag war, somit lag ein langes Wochenende 
          vor ihnen. Beata hatte Schweinefilet gekauft, das bereits mariniert 
          im Kühlschrank vorbereitet war, und dazu eine Flasche guten Rotwein, 
          den sie sich von Philip Jan hatte empfehlen lassen, dem wohlerzogenen 
          Stationsarzt, der sich mit Weinen auskannte. Er tat ihr immer gerne 
          einen Gefallen, da er eine Schwäche für sie im Besonderen 
          und für schöne Frauen im Allgemeinen hatte.Danke an den btb Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Henrik Eklund war Beatas fester Freund seit dem Gymnasium, aber sie 
          kannten sich schon länger. Sie kamen aus demselben Viertel, und 
          sie war ihm schon viel früher aufgefallen. Er hatte sie geradezu 
          erwählt, die kleine Beata. Für Henrik war sie das personifizierte 
          Lächeln und Licht, eine Beschreibung, der vermutlich viele zustimmten. 
          Nach Jahren schmachtender Sehnsucht und hingebungsvollem Werben bekam 
          er Beata endlich. Der Sieg wurde von einem Verlobungsring gekrönt, 
          den er ihr an einem stillen Sommerabend am Strand über ihren grazilen 
          Ringfinger schob. Besser als so konnte es nicht werden.
 Henrik war der Mensch, den Beata am besten von allen zu kennen meinte; 
          sie verließ sich auf ihn, und bisher hatte er sie noch nie enttäuscht. 
          Deswegen glaubte sie, dass sie ihn am meisten von allen liebte. Es musste 
          so sein. Sie waren zusammen aufgewachsen und zusammengewachsen, einfach 
          füreinander bestimmt. Wenn Henrik in einem knappen Jahr das Lehrerseminar 
          in Växjö hinter sich hatte, wollten sie heiraten. Beata hatte 
          bereits in verschiedenen Zeitschriften eingehend Brautkleider studierte. 
          Mit anderen Worten: Die Pläne waren schon weit gediehen, die Zukunftsträume 
          gigantisch.
 Auf dem Korridor der Großstation sechs hielt die morgendliche 
          Hektik Einzug. Beata hörte die eiligen Schritte der Pflegehelferinnen 
          und versuchte, den Papierkram zu beschleunigen, um nach draußen 
          zu kommen und beim Verbandswechsel zupacken zu können. Sie warf 
          einen Blick auf die Tafel an der Wand, auf der für jedes Bett (in 
          schwarzem Filzstift) in den zehn Patientenzimmern mit blauem Filzstift 
          die Initialen eines Namens eingetragen waren. Beata war für die 
          hinteren fünf Zimmer zuständig, zwei Vierbettzimmer und drei 
          Doppelzimmer, zusammen vierzehn Patienten, da die Station voll belegt 
          war. Es war nicht leicht, sich zu erinnern, bei wem an diesem Morgen 
          Verbandswechsel war. Am Vortag war sie außerdem für die anderen 
          Zimmer zuständig gewesen, was es noch zusätzlich erschwerte, 
          die Patienten auseinander zu halten. Sie suchte nach einem grünen 
          Stern, was "großer Verbandswechsel" bedeutete, und der 
          stand vor 5-1. Also machte sie sich auf den Weg.
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