| KAPITEL 1 Leseprobe
Der Mann ging am Pålsund-Kanal entlang und sah 
          leicht fröstelnd auf das dunkle Wasser hinunter. Er fühlte 
          sich unruhig, die Ereignisse der letzten Zeit gefielen ihm gar nicht. 
          Allmählich befürchtete er einen Fehler begangen zu haben. 
          Aber jetzt war es zu spät, um etwas daran zu ändern. Später, 
          wenn die ganze Sache überstanden war, konnte er darüber nachdenken. 
          Auf jeden Fall hatte er sich an seinen Teil des Abkommens gehalten. 
          Niemand konnte Gegenteiliges behaupten. Dennoch fiel es ihm schwer, 
          das unbehagliche Gefühl in der Magengegend zu ignorieren. Er warf 
          einen Blick zurück, sah aber nur das Taxi, mit dem er gekommen 
          war. Es hatte auf der anderen Seite des natürlichen Wasserweges 
          gehalten, der die Insel Långholmen vom übrigen Stockholm 
          trennte, und parkte an der Uferstraße Söder Mälarstrand. 
          Der Fahrer saß im Wagen, zählte sein Geld und hatte die Taxileuchte 
          noch nicht auf »frei« gestellt. Es regnete unaufhörlich, 
          ein dünner, kalter Nieselregen. Seit mehreren Tagen regnete es 
          ohne Unterbrechung, so dass die Ufer des Kanals schlammig waren und 
          das Röhrichtgestrüpp schmutzigbraun über das Wasser hing. 
          An den Stegen lagen noch immer Boote, die an Land geholt werden mussten. 
          Er konnte nicht verstehen, dass die Leute bis zur letzten Minute damit 
          warteten, anstatt sofort nach Saisonschluss alles Nötige zu erledigen. 
          Wie es aussah, konnte der Kanal jeden Moment zufrieren, und dann war 
          es zu spät. Der Mann steckte die Hände tief in die Taschen 
          und ging an einem schön gearbeiteten Boot vorbei, Eichenholz mit 
          weißem Verdeck. Der Eigner hatte es noch nicht einmal für 
          nötig befunden, die Sitzkissen von den Seitenbänken im Heck 
          zu nehmen.Wie konnte man ein Boot so sträflich vernachlässigen? 
          Er hatte fast Lust, an Bord zu steigen und eines der Sitzkissen mitzunehmen. 
          Nur um dem Bootsbesitzer zu zeigen, wie fahrlässig es war, sein 
          Eigentum draußen herumliegen zu lassen.Aber er ging weiter und 
          zog den Gürtel seines Mantels enger. Es war schnell Abend geworden, 
          und der Sprühregen hüllte den Kanal in einen bläulichen 
          Nebel, der ihn erbärmlich frieren ließ. Er sah auf die Uhr. 
          Es war kurz nach neun, und trotz der recht frühen Stunde war kein 
          Mensch in der Nähe. Die großen Weidenbäume, die sich 
          zum Wassersaum hinabneigten, und die dürftige Straßenbeleuchtung 
          trugen wohl ihren Teil dazu bei. Der Kanalhafen war nicht gerade die 
          Gegend, wo junge Damen ihren Hund Gassi führten.Aber er hatte keine 
          Wahl.Hier war der abgesprochene Treffpunkt, und wenn er nicht auftauchte, 
          dann würde auch sein Geld nicht auftauchen. Er bewegte sich von 
          der Brücke fort Richtung Heleneborgs Bootsclub. Schräg über 
          ihm erhob sich die imposante Stahlwölbung der Västerbrücke 
          als dunkler Bogen gegen den gelblichen Himmel. Der Treffpunkt sollte 
          am Kai 22 sein. Ein motorgetriebenes Boot im Pettersson-Stil lag dort 
          vertäut, aus Mahagoniholz und sehr gepflegt. Als er sich dem Anlegeplatz 
          näherte, sah er, dass in der Kajüte Licht brannte. Er blieb 
          stehen und versuchte durch das Fenster ins Innere zu schauen, konnte 
          aber nur einen Rücken sehen. Auf seinen Zuruf bekam er keine Antwort, 
          also ging er auf den Bootssteg, rief noch einmal und stieg dann vorsichtig 
          auf die Schiffsreling und hinunter auf die Seitenbank. Das Boot schwankte 
          ein wenig, und die Person in der Kajüte wandte den Kopf und löschte 
          sofort das Licht. Es wurde stockfinster.Vom Deck aus konnte der Mann 
          nur mit Mühe die Gestalt in der Kajüte ausmachen, die wahrscheinlich 
          einen Schreck bekommen hatte, als er das Boot betrat. Er wollte gerade 
          sagen: »Ich bin es nur«, als ihn ein harter Gegenstand über 
          dem Auge traf. Zuerst glaubte er, dass er ausgerutscht sei, denn der 
          Holzboden kam mit Hochgeschwindigkeit auf ihn zu, und für einen 
          Moment wirkte es, als seien es die Planken, die mitten in seinem Gesicht 
          gelandet waren. Doch gerade als er sich auf alle viere aufrichten und 
          hochschauen wollte, sah er das Metallrohr herabsausen. Er hatte nicht 
          einmal Zeit zu erklären, dass man ihn mit jemand verwechselt haben 
          musste, bevor ihn die Stange am Kopf traf und ihm für alle Zeiten 
          jede Möglichkeit des Protestes nahm. Die traurige Wahrheit ist: 
          Erklärungen sind nur etwas für die Lebenden.
 KAPITEL 2
 
 Kommissar Axel Hake stand in der Küche und lehnte sich auf seinen 
          Gehstock. Er hatte breite Schultern, kurz geschnittenes Haar und trug 
          zu seiner Jeans eine Anzugjacke aus grobem Tweed.
 »Also, kommst du jetzt?«
 Er schaute zu seiner Schwester Julia hinüber, die vor einem Spiegel 
          stand und Ordnung in ihr strubbeliges Haar zu bringen versuchte. Im 
          Gegensatz zu ihrem Bruder sah sie nicht besonders gut aus, aber sie 
          hatte schöne, ironisch funkelnde Augen. Sie selbst fand, dass ihr 
          Gesicht einer Kinderzeichung mit falschen Proportionen glich. Die Nase 
          war knubbelig, die Lippen etwas zu breit, die Wangen rundlich wie ein 
          aufgegangener Kuchenteig. Allerdings bekümmerte so etwas Julia 
          Hake wenig, denn ihre große Passion war das Leben als Veterinärin 
          im Forstgebiet Tullinge, und an Männern hatte es ihr nie gemangelt. 
          Gut aussehende Männer. Mit anderen gab sie sich nicht ab.
 »Manche Frauen mögen humorvolle Männer, mächtige 
          Männer oder hochkultivierte Männer. Ich mag meine Männer 
          schön. Mehr ist nicht dabei«, hatte sie einmal leichthin 
          erklärt. Aber heute hatte Hake das Gefühl, dass etwas nicht 
          stimmte. Sie hatte sogar einen alten Lippenstift hervorgekramt, den 
          sie sich auf den Mund schmierte, und grimassierte vor dem Spiegel. Das 
          Rot sah aus wie eine blutende Wunde.
  »Ich muss Siri in einer Stunde vom Hort abholen, 
          also solltest du dich ein bisschen beeilen«, sagte er und wiegte 
          sich auf seinem Stock. Er war mit einigen Kartons Rotwein zu seiner 
          Schwester hinübergefahren. Diesen Gefallen tat er Julia hin und 
          wieder, vor allem um zu sehen, wie es ihr draußen in ihrer Einsiedlerklause 
          ging. Das Haus lag einsam mitten in einem großen, dunklen Fichtenwald, 
          kein idealer Wohnort für eine alleinstehende Frau, wie er fand. 
          Aber seine Schwester zeigte sich nie beunruhigt. Ganz im Gegenteil. 
          Sie fühlte sich am sichersten, wenn nicht allzu viele Menschen 
          in der Nähe waren. Etwas geistesabwesend hatte sie die Weinkartons 
          entgegengenommen, auf dem Herd abgesetzt, war eine Weile wirr im Haus 
          herumgerannt und hatte Axel Hake überredet, sie mit seinem Auto 
          ein paar Kilometer zu kutschieren. Ihr Landrover hatte einen Platten, 
          und sie hatte keine Zeit, ihn zu reparieren. Sie wechselte mehrmals 
          ihre Garderobe, nur um schließlich ihre alte Jeansjacke anzuziehen. 
          Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie sich noch nie so oft im Spiegel 
          betrachtet. Schließlich war sie ausgehfertig, warf einen wirklich 
          allerletzten Blick in den Spiegel, sank ein bisschen in sich zusammen 
          und ging aus dem Haus. Axel Hake folgte ihr mit hinkenden Schritten. 
          Er war nicht gerade ein Invalide, aber er hatte eine Kugel ins Knie 
          bekommen und einen bleibenden Schaden zurückbehalten  nach 
          einer medizinischen Behandlung, die nach Hakes Meinung an Misshandlung 
          grenzte.»Der Schal!«, rief Julia und lief zurück ins Haus. 
          Hake seufzte und hinkte weiter zu seinem alten, rostigen Citroën. 
          Er setzte sich auf die Motorhaube und ließ seine Blicke umherschweifen. 
          Julia Hakes Tierarztpraxis sah ein bisschen baufällig aus. Das 
          große Wohngebäude war zwar in gutem Zustand, doch die alte 
          Scheune und die Weidezäune um das Gehege machten einen Eindruck 
          von
 nicht gerade Vernachlässigung, aber zumindest einem Mangel 
          an Pflege. Julias Erklärung war, dass Tiere keine ästhetischen 
          Präferenzen hätten und dass die Arztpraxis, die vor allem 
          kranke Pferde, Hunde und Kleintiere versorgte, ihre Funktion mehr als 
          erfüllte. Die Tür wurde wieder geöffnet, und Julia kam 
          heraus. Sie trug über ihrer Jeansjacke ein farbenfrohes Tuch um 
          den Hals. Kurz vor Hake blieb sie stehen und blickte ihn direkt an. 
          Die seegrasfarbenen Augen blitzten.
 »Na«, fragte sie, »bin ich so okay?« »Du 
          triffst dich doch nur mit so einem Typen aus einer Veganerkommune, richtig?«
 »Bin ich okay?«, wiederholte sie scharf. Axel Hake nickte. 
          Sie sah mehr als »okay« aus. Aber er war dennoch beunruhigt. 
          Solange er sich zurückerinnern konnte, hatte sie schöne, charakterlose 
          Männer nach Hause geschleppt 
 und sie wie Luft behandelt. 
          Das hatte Julia auf gewisse Weise noch interessanter gemacht, denn ihre 
          Liebhaber waren eine solche Gleichgültigkeit nicht gewohnt. Es 
          hatte genug Krach und Streit gegeben, und mehr als einmal hatte Hake 
          dazwischen gehen müssen. Aber er hatte dennoch immer das Gefühl 
          gehabt, dass sie am Ende ohne seelische Kratzer davonkommen würde. 
          Diesmal sah es jedoch so aus, als sei die große Liebe über 
          Julia hereingebrochen. Sie wirkte unsicher und war noch launischer als 
          gewöhnlich. Sie grämte sich darüber, dass sie vielleicht 
          schon zu alt war, um Kinder zu bekommen. Der Mann, dem sie ihr Herz 
          geschenkt hatte, war eigentlich noch ein halber Junge: gerade über 
          zwanzig, von russischer Abstammung und Mitglied einer Veganerkommune, 
          die tatsächlich tiefer im Wald lag als die Tierarztpraxis. Hake 
          kannte ihn bisher nicht und hatte von Julia nur aufschnappen können, 
          dass er blond war und einen glatten, unbehaarten Körper besaß. 
          Als er nach dem Charakter des Jungen fragte, hatte sie ihn verständnislos 
          angesehen und gefragt, was das mit der Sache zu tun haben sollte. Lieber 
          Himmel, der Russe sah schließlich aus wie ein griechischer Gott
 
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Marianne de Vrie saß in ihrem schicken, historisch wertvollen 
          Haus auf der Insel Långholmen  mitten in Stockholm  
          und versuchte sich auf den Reiseführer zu konzentrieren, an dem 
          sie gerade arbeitete. Sie hatte eine Reihe gut geschriebener, faktengespickter 
          Bücher herausgegeben, die von einem treuen Leserkreis gekauft wurden. 
          Jetzt befand sie sich allerdings in einer peinlichen Klemme, denn sie 
          litt mit einem Mal unter einer Schreibblockade, und die Worte kamen 
          nicht so, wie sie sollten. Eine Freundin hatte ihr den Rat gegeben, 
          sich nicht zu überanstrengen, sondern im Internet nach Beschreibungen 
          der Orte zu suchen, über die sie berichten wollte. Das hatte Marianne 
          als unmoralisch abgelehnt. Aber nach einem halben Jahr geistiger Dürre 
          hatte sie sich doch ins Netz begeben und vor kurzem eine französische 
          Reisereportage aufgestöbert, die sicherlich kein schwedischer Leser 
          jemals zu Gesicht bekommen würde. Sie hatte den Tag damit verbracht, 
          den Text zu übersetzen, der vom Besuch eines Vogelmarktes in Marrakesch 
          handelte. »Vögel, die im Wüstensand baden« würde 
          sie ihn nennen und für das erste Kapitel ihres Buches benutzen. 
          Aber nach dieser Kopierarbeit fühlte sie sich nervös und unruhig, 
          schämte sich ein bisschen und beschloss, auf einen langen, beruhigenden 
          Spaziergang zu gehen. Marianne blickte auf die herbstliche Landschaft, 
          Laubbäume in brennenden Farben, während sie den Skutskepparvägen 
          entlang wanderte.Mit jedem Schritt fühlte sie, wie die Anspannung 
          nachließ, wie die Schuldgefühle sich aufzulösen begannen. 
          Dennoch warf sie unruhige Blicke in alle Richtungen, sie hatte das Gefühl, 
          als würde ihr jemand über die Schulter schauen. Ein Unsichtbarer 
          stand hinter ihr und ermahnte sie, ihr Publikum nicht hinters Licht 
          zu führen. Sie ging schneller, um das Gefühl loszuwerden, 
          was sich jedoch als Fehler erwies. Schnell war sie so ausgepumpt, dass 
          sie sich am Lattenzaun neben dem Pålsund-Kanal abstützen 
          musste. Zum Wasser hin stand ein Holztor offen, und dahinter liefen 
          Bootstege am Wasser entlang. Sie legte stets Wert darauf, Haltung zu 
          bewahren, niemand sollte sie sehen, während sie nach Atem keuchte. 
          Also trat sie auf den Steg hinaus und schaute seufzend auf die Wellenmuster 
          hinunter. Zuerst glaubte sie, jemand habe sich hinter sie gestellt, 
          um sich im Kanal zu spiegeln. Gleich unter der Wasseroberfläche 
          stand ein Mann in einem Mantel und starrte sie mit leeren Augen an. 
          Erst als sie das schwerelos treibende Haar sah, die milchweißen 
          Augenhöhlen und das entstellte Gesicht, verstand sie, dass es ein 
          Toter war, der dort mehr oder weniger aufrecht im Wasser stand. Zuerst 
          konnte sie nicht begreifen, wie diese Haltung möglich war, doch 
          dann sah sie die Metallkette um sein Bein, die ihn an Ort und Stelle 
          hielt. Und gleich darauf hallte ihr Schrei über den Kanal, fing 
          sich in der gewaltigen Wölbung der Västerbrücke und wurde 
          zu einem Echo, das scheinbar kein Ende mehr nahm. Die Veganerkommune 
          lag auf einer Lichtung, umgeben von idyllisch rauschendem Fichtenwald. 
          Als Haupthaus diente eine große, gelb gestrichene Jugendstilvilla 
          mit drei Etagen. Das typische schwedische »Bellmann-Gelb«, 
          wie Hake irgendwann gelesen hatte. Ein Farbton, mit dem man mehrere 
          Jahrhunderte lang die eleganteren schwedischen Häuser und Gebäude 
          gestrichen hatte.Neben der Villa befanden sich ein paar Schuppen und 
          davor ein grauer VW-Bus. Als er auf den Wendeplatz einschwenkte, fiel 
          sein Blick auf einen älteren Mann, der ihnen entgegenging. Er war 
          um die fünfzig, hatte ein hageres Gesicht, breite buschige Augenbrauen 
          und kastanienbraunes Haar. Hake hatte sich unter dem Leiter der Kommune 
          eine Art Guru-Gestalt vorgestellt, aber dieser Mann ähnelte eher 
          einem Freizeitjäger als einem Philosophen. Julia winkte ihm zu, 
          und der Mann nickte kurz.Danke an den Heyne Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.»Wie geht es Elina?«, fragte Julia, als sie beide aus dem 
          Citroën gestiegen waren. Der Mann musterte Hake und seinen Gehstock 
          mit einem wachsamen Blick, bevor sich seine Augen auf Julia hefteten.
 »Ich glaube, das Fieber hat nachgelassen, aber du solltest sie 
          dir besser mal ansehen.« Julia hatte erzählt, dass die Hündin 
          der Kommune ernsthaft krank geworden war, nachdem sie Junge bekommen 
          hatte. Als Ärztin hatte sie es übernommen, sich um das Tier 
          zu kümmern. Auf diese Weise hatte sie auch ihren neuesten Bettgespielen 
          kennen gelernt.
 »Ist Juri da?« Der Mann machte eine Kopfbewegung zum Hauseingang. 
          »Er hält Wache am Krankenbett.« Julia begann förmlich 
          zu strahlen, öffnete den Kofferraum und holte ihre medizinische 
          Ausrüstung heraus.
 »Also, ich gehe dann wohl rein«, meinte sie und schaute 
          ihren Bruder an.
 »Zehn Minuten höchstens«, sagte Hake. Julia nickte 
          und hastete ins Haus. Der Mann machte einen Schritt auf Hake zu und 
          streckte die Hand aus.
 »Gustav Lövenhelm«, stellte er sich vor.
 »Axel Hake. Ich bin Julias Bruder.«
 »Ach so«, meinte Lövenhelm. »Sie sehen sich nicht 
          sehr ähnlich.« Er musterte Hake ungeniert.
 »Tja«, sagte Hake, »unsere Eltern behaupten, wir seien 
          verwandt, aber sicher wissen kann man das ja nie.« Lövenhelm 
          lächelte andeutungsweise, wiegte sich auf den Fußsohlen und 
          machte eine Handbewegung zum Haus hin.
 »Wir haben Kräutertee. Bedienen Sie sich einfach, so funktioniert 
          das bei uns in der Kommune.« Hake bedankte sich und ging auf das 
          Haus zu, gerade als zwei junge Frauen angeradelt kamen und vor Lövenhelm 
          stehen blieben.Hake hörte ihn sagen, dass sie Glück hätten, 
          in der Kommune sei gerade Platz. Den Rest bekam er nicht mit, denn in 
          diesem Moment begann sein Handy schrill zu klingeln. Am anderen Ende 
          war Oskar Lidman, sein Kollege bei der Kripo.
 »Es gibt Arbeit«, sagte Lidman.
 »Wir haben eine Wasserleiche. « Hake ging ins Haus, um Julia 
          zu finden. Er glaubte, sie im zweiten Stock reden zu hören und 
          ging, der Stimme folgend, eine breite Treppe hinauf. In einem der Räume 
          stand Julia vor einem sehr jungen Mann mit blassem, fast albinobleichem 
          Gesicht und leuchtend weißem Haar.
 »Ich weiß noch nicht, Julia«, sagte der Junge mit 
          einem slawischen Akzent.
 »Ich habe eine Menge zu tun.«
 »Bitte, bitte, Liebling«, schmeichelte Julia.Hake gefiel 
          der Ton ihrer Stimme nicht. Sie klang unterwürfig und zuckersüß. 
          Der Junge nahm ihr Gesicht in seine Hände und schaute sie mit einem 
          zufriedenen Ausdruck an. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und schob 
          sie dann brüsk von sich weg. Gleich darauf wandte er sich dem Hund 
          zu, der auf einer Decke lag und an dessen Bauch vier Welpen gekuschelt 
          waren.
 »Wie geht es denn nun eigentlich Elina?« Julias Augen hingen 
          noch einige Sekunden an seinem Gesicht, ehe sie zu der Hündin hinunterschaute. 
          In diesem Moment ließ sich Hake in der Tür blicken, so als 
          sei er gerade erst die Treppe herauf gekommen und habe nicht gesehen, 
          was vor sich ging. Juri betrachtete ihn forschend. »Ich muss los, 
          Julia. Oskar Lidman hat angerufen. Ich habe Bereitschaft, und es ist 
          eilig. Die Spurensicherung ist schon am Tatort.«
 »Tatort«, wiederholte Juri. »Bist du ein Bulle?«
 »Nein«, sagte Axel Hake.
 »Ich bin Polizist, und was bist du?« Juri lächelte 
          versonnen und warf einen Seitenblick auf Hakes Schwester.
 »Wenn es nach Julia geht, bin ich Fürst Myshkin. Sie wissen 
          schon, aus Dostojewskis Buch.«
 »Ein Idiot also.« Julia warf ihm einen vernichtenden Blick 
          zu, aber Juri antwortete nur ruhig:
 »Das kann schon sein. Vielleicht bin ich ein Idiot.« Er 
          lächelte Julia zu, und das Lächeln war blendend. Oskar Lidman 
          wartete unten am Pålsund-Kanal. Die Spurensicherung hatte den 
          Bereich abgesperrt, und einige Schaulustige standen herum und versuchten 
          zu sehen, was passiert war. Die Leiche lag hinter einem aufgespannten 
          Tuch, das dafür sorgen sollte, dass die Pressefotografen keine 
          Gelegenheit zu einem Schnappschuss bekamen. Ein Reporter sprach mit 
          Marianne de Vrie, die mit leiser Stimme von ihrem Fund berichtete. Kommissar 
          Axel Hake trat ein paar Schritte vor, um die Person sehen zu können, 
          die auf der Plastikbahre lag. Das Gesicht war grotesk aufgequollen, 
          man konnte die Züge nur mit Mühe erkennen. Die Haare waren 
          rot, aber die Augenfarbe unmöglich zu bestimmen. Fische und anderes 
          Wassergetier hatten die Augäpfel zum größten Teil weggefressen.
 »Wissen wir, um wen es sich handelt?«, fragte Hake. Oskar 
          Lidman schüttelte den Kopf und versenkte seine Hände in den 
          Jackentaschen. Er war korpulent, um nicht zu sagen fett, aber wenn es 
          nötig war, bewegte er sich gewandt und schnell. Man konnte leicht 
          erraten, dass Tanzen sein Hobby und seine Passion war, denn seine Schritte 
          wirkten rhythmisch, als folgten sie dem Takt einer Salsa- oder Rumbamelodie.
 »Allzu schwer kann das nicht werden, mit dieser Tätowierung. 
          « Hake deutete auf den linken Arm des Mannes, wo ein weißer 
          Flügeldrache in chinesischem Stil vor einem schwarzen Hintergrund 
          schwebte. In einer Ecke des Bildes befand sich die Ziffer zwei und mitten 
          in der Tätowierung ein Viereck, das in zwei farbige Flächen 
          aufgeteilt war  rot und grün  und von einer Art goldener 
          Feuerflamme durchschnitten wurde.Hake hatte noch nie etwas Ähnliches 
          gesehen.
 »Es wird schwierig, falls er nicht aus Schweden stammt«, 
          gab Lidman zu bedenken. Die dünne Gestalt von Gerichtsmediziner 
          Brandt kam auf sie zu. Der Mann grüßte mit einem kurzen Nicken. 
          »Ich kann jetzt schon sagen, dass sich der Zeitpunkt des Mordes 
          unmöglich bestimmen lassen wird. Der Mann hat sicher eine gute 
          Woche im Wasser gelegen, und die Wassertemperatur hat in den letzten 
          Tagen sehr geschwankt.«
 Mal wieder typisch, dachte Hake. Das bedeutete, dass man 
          eventuelle Verdächtige nicht nach einem Alibi befragen konnte.
 »Aber er ist auf jeden Fall ermordet worden«, fuhr Brandt 
          mit seiner heiseren Stimme fort, die wie das Knirschen von trockenem 
          Kies klang.
 »Jemand hat ihm mit einem gerundeten Gegenstand auf den Kopf geschlagen, 
          zwei- oder dreimal hintereinander. Ein Eisenrohr oder etwas Ähnliches.«
 »Also war er tot, bevor man ihn im Wasser versenkt hat?« 
          Brandt betrachtete Hake mit kaum verborgenem Widerwillen.
 »Was glauben denn Sie? Wie Sie selbst sehen können, ist der 
          Schädel so gut wie zertrümmert.«
 »Man kann einen Menschen wohl zuerst ertränken und ihm dann 
          den Schädel einschlagen«, konterte Hake ruhig.
 »Manchmal kommt es ja vor, dass ein Mörder nicht mit offenen 
          Karten spielt.« Er dachte nicht daran, Brandt einen so billigen 
          Sieg zu gönnen. Ohne ein weiteres Wort wandte sich Brandt um und 
          marschierte Richtung Leichenwagen davon. Hake schaute erneut auf das 
          Mordopfer. Die Kette um den Fuß des Mannes hatte tief ins Fleisch 
          geschnitten, und man sah deutlich den weißen Knochen unter dem 
          Metall. Der an der Kette befestigte Anker bestand aus Stahl und war 
          schwer genug, um einen Körper ohne Weiteres unter Wasser zu halten.
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