Rebecka Edgren Aldén - Die achte Todsünde
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Rebecka Edgren Aldén - Die achte Todsünde
 
Rebecka Edgren Aldén - Die achte Todsünde
Hier können Sie Probelesen in dem Krimi "Der falsche Tote" des Autors Lars Saabye Christensen.
Der falsche Tote Der falsche Tote

Sondereinband
251 Seiten
btb Verlag
Erscheinungsdatum:
Dezember 2001
Orginaltitel: "Jokeren"
Übersetzung: Christel Hildebrandt


Kurzbeschreibung

Als Hans-Georg Windelband eines Morgens in der Zeitung seine eigene Todesanzeige liest, hält er dies zunächst für einen makabren Scherz - ist er doch jung und erfreut sich bester Gesundheit. Sein väterlicher und einziger Freund, der Schlachter, rät ihm, für eine Weile zu verschwinden, eine kleine Auszeit vom hektischen Leben zu nehmen und Erholung zu suchen. Windelband ist zunächst auch geneigt, die kleine Verschnaufpause vom tristen Alltag entsprechend zu nutzen, aber dann siegt die Neugier: Gar zu gern möchte er wissen, wer eigentlich der Tote ist, der in wenigen Tagen unter seinem Namen beigesetzt werden soll. Er beschließt, zur Beerdigung zu gehen und sich unter die Trauergemeinde zu mischen. Im Krematorium lernt er den alten Malvin kennen, der bei einer Flasche Calvados bereitwillig erzählt, was er über den Toten mit dem schrecklich zugerichteten Gesicht weiss. Der Schlachter und Malvin bilden nur den Anfang einer Kette schillernder Figuren, welche die Spur säumen, der Windelband quer durch die Osloer Unterwelt folgt und die andererseits immer wieder zu angesehenen Bürgern der Stadt führt. Denn eines ist schon bald auch Hans-Georg Windelband klar: Der falsche Tote wurde ermordet - und sein eigenes Leben wird niemals mehr sein wie zuvor ...




Leseprobe

1

Doch ich war nicht tot.
Doch es stand in der Zeitung.
Ich erhob mich langsam aus dem Sessel, ging zum Fernseher und ließ einen müden Zeigefinger mit schwarzem Rand unter einem bläulichen Nagel auf den Ausknopf fallen. Das Bild zog sich zusammen und verschwand. Der Mann, der eben noch finstere Wettermeldungen vorgelesen hatte, verschwand aus meinem Zimmer, wahrscheinlich ging er rüber zum Nachbarn und servierte dort weitere unangenehme Temperaturen. Ich stand eine Weile da und lauschte gedankenverloren der Straßenbahn, die die Theresesgate hinunterratterte, einigen Stimmen, die zu laut sprachen, um freundlich zu sein, und einem Plattenspieler, der sich in den Schlagersänger Jens Book-Jenssen verliebt hatte. Es dauerte eine Weile, bevor mein Kopf die Situation voll und ganz erfassen konnte, oder genauer gesagt, ich brauchte einige Minuten, bevor ich mich an das Jenseitige gewöhnt hatte. Dann nickte ich den Engeln zu und ging zurück zu meinem Sessel.
Es war keine groß aufgemachte Anzeige, kein unser lieber, schmerzlich vermisster oder unersetzlicher, keine Auflistung netter Namen, die sich meiner mit Wehmut erinnern. Nur mein Name. Hans Georg Windelband. Er ging nicht von jemandem. Er ging nur fort. Aus Oslo. Am 15. Februar 1978. Heute war der 18. Februar, Samstag. Hans Georg Windelband sollte am Dienstag, dem 21. Februar im Vestre Krematorium beigesetzt werden. Aus einem Schrank, der keine Zauberformeln braucht, um sich zu öffnen, holte ich eine Flasche hervor, deren Boden mit Calvados bedeckt war. Den goss ich in ein grünes Glas, setzte mich bequem in den Sessel und wartete auf die Glückwünsche.
Aber es kamen keine Glückwünsche. Das Telefon stand da wie ein kaltes Bügeleisen, vor mir lag die Aftenposten, die simplen Kreuzworträtsel grinsten mich daraus an. Und zwischen all den nichts sagenden Namen war ich platziert. Hans Georg Windelband. Ich dachte: Das ist das erste Mal, dass mein Name in der Zeitung steht. Dieser Gedanke machte nicht wenig Eindruck auf mich. Aber andererseits: Darf man alles glauben, was in der Zeitung steht?

2

Um 10 Uhr rief ich den Schlachter an. Er hatte Telefondienst. Er antwortete, bevor das erste Klingeln beendet war.
»Ja«, sagte er nur.
»Hier ist Hans Georg.«
»Ach. Da ist Hans Georg. Windelband. Und von wo aus rufst du an?«
»Aus dem Limabus. Ich unterhalte mich hier mit Dante und Raymond Chandler.«
»Hör auf mit dem Gerede.«
»Ich bin zu Hause«, sagte ich müde.
Der Schlachter atmete schwer in den Hörer.
»Was zum Teufel hast du jetzt wieder angestellt?«, fragte er mit einer Mischung aus Resignation und Raserei.
»Keine Ahnung«, antwortete ich ehrlich. »Ich habe wirklich keine Ahnung.«
Ich beugte mich über den Tisch und fischte eine Hobby aus der Packung.
»Bist du noch da?«, rief der Schlachter.
»Ja sicher. Hab' mir nur eine Zigarette geholt.«
»Hör zu.« Jetzt war seine Stimme ernst. »Es ist schön, dass es dir gut geht und dass du in der Zeitung stehst, aber ich hoffe, du siehst ein, dass dein Debüt nicht gerade vielversprechend ist.«
»Das ist mir auch klar«, sagte ich.
Übrigens war es nicht das erste Mal, dass über mich etwas in der Zeitung stand. Aber ich hatte noch nie meinen Namen gedruckt gesehen, abgesehen vom Gemeindeblatt, als ich getauft wurde.
»Und was willst du nun machen?«
»Vielleicht könnten wir drüber reden. Deshalb rufe ich an. Wie wär's mit Tørteberg?«
»Wir!«

Buchtipp
Camilla Läckberg - Die Eishexe: Kriminalroman (Ein Falck-Hedström-Krimi 10)

Der Hörer war stumm. Eine neue Book-Jenssen-Schallplatte wurde eine Etage höher aufgelegt. Wenn die Kastanien in der Bygdøy Allee erblühen. Draußen fiel Schnee.
»Nicht Tørteberg«, sagte der Schlachter schließlich. »Rosenborg in einer Viertelstunde.«
Ich hörte ein Klicken im Ohr.
Dieser Frühling ist unser Frühling.
Der Schnee hing schwer und eklig in der Luft, als ich aus dem Hinterhof rauskam und die Theresesgate schräg Richtung Matkroken überquerte. Beim Uhrmacher ein kleines Stück weiter war es acht Minuten nach zehn. Eine Straßenbahn schaukelte hinter mir. Ich sprang auf den Bürgersteig und sah eine Reihe weißer Gesichter Richtung Bislet und Innenstadt verschwinden. Die Straßen waren leer. Die hässlichen Häuser waren geschlossen und abgesperrt. Hier und da leuchteten einige grelle Fenster, und das Pissoir bei der Fagerborg Kirche stank schlimmer denn je. Das einzige Lebewesen, das ich sah, war ein blinder Mann, der mit seinem weißen Stock den Schnee vor sich wegbürstete und seinen großen, traurigen Kopf schüttelte. Viertel nach zehn ging ich die steile Treppe zum Rosenborg Restaurant hinauf.
Ich legte eine Krone in den Spielautomaten am Eingang und verlor sie. Im gleichen Moment sprach jemand hinter mir.
»Sei vorsichtig damit. Gibst du den kleinen Finger, verlierst du bald den Kopf.«
»Das ist eine humanitäre Tat«, sagte ich. »Ich würde nie auf die Idee kommen, vom Roten Kreuz Geld gewinnen zu wollen.«
»Dieses Jahr ist bestimmt das Jahr der Flüchtlinge«, sagte der Schlachter und schob die beiden Klappen zur Seite, die anstelle einer gewöhnlichen norwegischen Tür da waren und die dem Eintritt einen exotischen Touch verleihen sollten. Wir setzten uns an einen Fenstertisch. Jetzt war es überhaupt nicht mehr exotisch. Die Luft war voller Rauch und Dampf von feuchter Kleidung. Die Stimmen summten monoton, wie ein Motor, der nie richtig auf Touren kommt. Ab und zu durchbrach ein Lachen oder ein lautes Rülpsen das Summen. Alles war wie gehabt. Es war Winter in Norwegen. Das war traurig und nicht auszuhalten. Der Schlachter hielt zwei riesige rote Finger in die Luft, und kurz darauf stand eine alte, erschöpfte Kellnerin an unserem Tisch. Ich bestellte ein Bier und Zigaretten, der Schlachter bat um eine halbe Flasche Wermut und Eiswürfel. Die Kellnerin nahm unsere Signale mit einem Seufzen entgegen und verschwand im Nebel. Ohne etwas zu sagen, stand der Schlachter auf, schälte sich aus seinem riesigen Pelz, der ihn wie einen verrückten Eisbären aussehen ließ, und ging zur Toilette. Der Schlachter war riesig. Seine graue Anzugjacke spannte sich wie eine Zwangsjacke über seine Schultern und seinen Rücken, und ein Waldbesitzer wäre entzückt von seinen Schenkeln. Der fast kahle Kopf glänzte schon, und die wenigen Haare, die noch lebten, waren mit einem Optimismus und einer Sorgfalt zurechtgelegt worden, die man ihm ansonsten nicht zugetraut hätte. Wie ein langsamer Panzer bewegte er sich durch den vollen Raum. Er kam zurück, als die Kellnerin an unserem Tisch vorbeituckerte und die Waren auslieferte.
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Leseprobe

Ich trank einige Schluck Bier, steckte mir eine Zigarette an und wartete, dass er etwas sagen würde. Aber der Schlachter ließ die Flasche zwischen seinen fetten Fingern kreisen, sah mich ruhig an, hob das Glas und trank den Inhalt in einem Zug. Die Eiswürfel schlugen gegeneinander.
Er begann ohne Einleitung.
»Als ich dich aus dem Rinnstein gefischt habe, sahst du nicht viel besser aus als die Schweine, die in meinem Kühlraum am Haken hängen. Und seitdem bist du mir ständig zur Last gefallen. Es gibt immer nur Ärger mit dir. Ich muss wie ein Schießhund aufpassen. Und jedes Mal habe ich zu mir selbst gesagt: Hab' Geduld. Und was ist der Dank? Neue Probleme. Noch mehr Krach. Als ich heute die Anzeige sah, dachte ich: Endlich! Nun ist er in sichereren Händen. Und dann rufst du an. Du rufst an! Weißt du, warum ich aufpasse, dass du am Leben bleibst? Aus einem einzigen Grund! Eines schönes Tages, wenn meine beiden gewitzten Kinder konfirmiert werden, ziehe ich dich hervor, bitte sie, dieses Wrack anzugucken, und ich werde sagen: Vergesst niemals diese Kreatur. So dürft ihr nie werden!«
Er goss sich ein neues Glas ein, offensichtlich mit sich zufrieden. Es war eine hübsche Geschichte, die er da erzählte, aber er hatte nicht alles gesagt. Das wusste ich. Und er wusste, dass ich das wusste. Ich schaute ihn mit meinem Stahlblick an, siegesgewiss. »Ich brauche Hilfe.«
Der Schlachter stellte sein Glas ab.
»Ich setze nicht auf tote Pferde.«
»Schon gut«, sagte ich und stand auf. »Ich falle jetzt in Trab und verschwinde. Aber die Pferde, auf die du sonst gesetzt hast, waren auch nicht besonders kräftig. Oder?«
Ich sah ihn an. Es tut immer weh, zu sehen, wie große Männer verlegen werden. Er fiel zusammen, bekam einen dummen Gesichtsausdruck, er ähnelte einer von Vigelands Skulpturen, ich weiß nicht genau, welcher, aber ich glaube, derjenigen, die zuunterst im Monolithen liegt.
»Setz dich«, bat er. Er bat mich.
Ich setzte mich. Der Schlachter wurde wieder er selbst, beugte seinen Körper nach vorn über den Tisch, das Gesicht nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt.
»Hör gut zu«, sagte er sanft wie ein Engel. »Hör sehr gut zu, denn es wird eine Weile vergehen, bevor wir beide wieder zusammen reden werden. Hörst du gut?«
»Ja«, sagte ich. »Ausgezeichnet.«
»Gut! Ich schlage dir vor, Ferien zu machen. Du siehst erschöpft aus. Dir sind sicher auch schon die dunklen Ränder unter deinen Augen aufgefallen.«
»Das ist der Stempel der Abstinenz«, sagte ich.
»Mag sein. Aber du brauchst Ferien. Wenn du beispielsweise morgen nach Paris fährst, kannst du für ein paar Monate im Lüvre herumschlendern.«
»Louvre«, verbesserte ich.
»Was?«
»Das wird u ausgesprochen, nicht ü. Louvre.«
»Also|...«, er holte tief Luft. »... morgen nimmst du dir ein Taxi zum Flughafen Fornebo, kaufst ein Ticket für den nächsten Flug nach Paris, kehrst im Louvre ein und bleibst da ein paar Monate.«
Ich sah ihn verständnislos an.
»Ich habe natürlich große Lust, nach Paris zu fahren«, sagte ich freundlich. »Aber das wird schwierig. Ich habe einige Probleme mit meinem Pass, weißt du. Weißt du?«
Der Schlachter war eine Weile still. Ich sah ihm ins Gesicht. Mir fiel auf, dass er sich ziemlich verändert hatte, seit ich ihn vor gut einem halben Jahr auf der Promenade kennen gelernt hatte. Es schien, als hätte sich das Fleisch vom Skelett gelöst und wäre in alle Richtungen geglitten. Die Wangen und das Kinn waren glatt wie Teller. Er isst zu viel hinterm Tresen, dachte ich. Genau wie ich zu viel Sahnetorte vertilge.
»Nun ja«, sagte er langsam. »Aber in Norwegen gibt es auch viele schöne Flecken.«
Ich schaute aus dem Fenster. Ein Stück die Straße hinauf leuchtete ein rotes Schild: Pension Fredheim. Drei Männer warteten vor der Tür.
»Ich kann ja dahin fahren«, sagte ich fröhlich, auf das Schild deutend. »Ich möchte nicht so weit weg fahren.«
»Wie witzig. Das ist kein Spaß. Du solltest es etwas ruhiger angehen lassen. Meinst du nicht? Ruh dich mal auf deinen Lorbeeren aus. Norwegen ist proppenvoll mit hübschen Flecken. Hardanger zum Beispiel.«
»Ich werde schon was finden«, sagte ich.
»Das ist für uns alle das Beste«, fügte er hinzu. »Bleib nur ein paar Jahre weg, aber komm zur Konfirmation meiner Kinder wieder.« Er stand auf, zog seinen Pelz an und rieb sich die Hände.
»Dann ist das abgemacht! Leb wohl.«
Er warf einen zugeklebten Briefumschlag auf den Tisch.
»Du bezahlst«, sagte der Schlachter.
Er wollte gehen, machte einen Schritt, dann änderte er seine Meinung, als wenn ihm etwas Wichtiges eingefallen wäre. Er beugte sich über mich.
»Sag mal, seit wann hast du denn die Aftenposten abonniert?«
Daran hatte ich nicht gedacht. Ich hatte noch nie die Aftenposten abonniert.
»Sie lag einfach da«, sagte ich. »Auf der Fußmatte. Vielleicht hat der Zeitungsjunge sich geirrt.«
»Sicher«, sagte der Schlachter. »Ja, sicher.«
Und dann verschwand er. Die Tür war groß genug.
Im Umschlag lagen dreitausend Kronen. Plus fünfundsechzig für eine halbe Flasche Wermut und ein Bier. Er hätte ruhig an die Zigaretten denken können. Er schuldete mir mehr als das.
Als ich hinauskam, lag der Schnee schräg in der Luft, wie ein steifes, schmutziges Laken. Ich schlug den Kragen hoch und steckte die Hände in die Taschen. Vor dem Rosenborg Kino stand ein Paar eng umschlungen und sah sich die Bilder von Fellinis »Casanova« an. Ich ging mit krummem Rücken an ihnen vorbei, fast unsichtbar. Ich beneidete sie. Tief in mir tobten einige widerliche Gefühle. Ich drehte mich nach dem Paar um, aber es war weg. Ich sah nur noch eine Hure, die einen zitternden Alten in die Pension Fredheim geleitete und die Tür hinter sich zuschmiss. Ich fühlte mich unwohl. Doch ich hatte dreitausend Kronen in einem Umschlag in der Brusttasche.
Doch ich war tot.

3

Der Sonntag kam in mein Zimmer wie ein Arzt mit gezücktem Skalpell. Das zerschnitt den Spalt zwischen den Gardinen, zerteilte den Fußboden in zwei Teile und malträtierte mein Gesicht. Ich stöhnte, setzte mich im Bett auf und schüttelte den Schlaf von mir. Irgendwo in der Nähe läutete eine Kirchenglocke.
Ich bin ein Mann der Tat. Während das Kaffeewasser kochte, packte ich meine Sachen zusammen und stellte den Koffer, einen alten Pappkoffer vom Flohmarkt, an die Tür. Mein Frühstück nahm ich stehend ein, Cracker und Kaffee. Irgendwo im Hinterkopf hatte ich ein scheußliches Gefühl, wie man es hat, wenn man glaubt, etwas vergessen oder versäumt zu haben. Dann spülte ich die Tasse aus, machte mein Bett und ging noch einmal durchs Zimmer. Keine persönlichen Papiere waren zurückgeblieben, keine Fotos, kein Calvados. Das einzige war die Aftenposten. Ich schlug die Todesanzeigen auf. Hans Georg Windelband. Ich wurde nicht müde, meinen Namen anzusehen. Das ist eine anständige Anzeige, sagte ich zu mir selbst. Damit kann man sich sehen lassen. Nicht irgend so ein Gedicht und kein unnützes Drumherumgerede. Nur ein schwarzes Kreuz, ein Name und ein Datum. Fertig. Ich hängte die Zeitungsblätter über das Treppenhausgeländer, sodass sich jemand die Zeitung gratis nehmen konnte. Dann guckte ich noch ein letztes Mal in die Runde, alles war in Ordnung, ich machte das Licht aus, nahm den Koffer und ging. Das Namensschild an der Tür machte keine Probleme. Ich hatte kein Namensschild. Auf meinem Briefkasten stand auch kein Name. Ich bekam niemals Post.
Die Sonne schien wie eine Lampe im Operationssaal. Der Himmel war blau und desinfiziert. Im Laufe der Nacht war Schnee gefallen, weiß, jetzt von morgenmuffeligen Patienten verdreckt. Ich blieb auf dem Bürgersteig stehen und dachte nach. Die Welt ist ein offenes Buch, aber der Titel gefällt mir nicht. Und alle Reisen sind ein Umweg auf dem Weg nach Hause. Ich zog die Schultern hoch, pfiff eine falsche Melodie und ging den gleichen Weg wie am Abend zuvor. Ich blieb vor der Pension Fredheim stehen. Die Tür war verschlossen. Ich fand eine Klingel und stellte meinen Koffer in den Neuschnee. Es dauerte eine ganze Zigarette lang, bis ein grauer Kopf hervorschaute und mich misstrauisch beäugte.
»Haben Sie ein Zimmer frei?«, fragte ich.
Der Kopf sah mich immer noch an, ich nahm den Koffer, und endlich wurde die Tür ganz geöffnet.
Ich folgte dem Kopf, der einem älteren, knöchrigen Mann gehörte. Der Ort wirkte nicht gerade anziehend. Rechts stand ein klappriger Tisch mit einem Strauß Plastikblumen in einem matten Pokal. Zwei verschlissene Sessel waren neben ihm platziert. An den Wänden hing nichts. Die Tapete zeigte exotische Tiere und muss von einem Magenkranken ausgewählt worden sein.
»Ein Zimmer«, sagte der Mann langsam und legte die Hände auf den Empfangstresen. »Für wie lange?«, fügte er hinzu und blinzelte zu den Haken hinüber, an denen die Zimmerschlüssel hingen. Nur zwei fehlten.
»Drei Wochen«, sagte ich. »Vielleicht noch länger.«
»Drei Wochen«, wiederholte er schwerfällig.
Seine Augen glitten wie zwei Quallen über mich hinweg. »800 Kronen. Im Voraus.«
Ich gab ihm acht Hunderter. Er guckte sie verwundert an, strich einen nach dem anderen glatt und zauberte sie fort. Dann nahm er einen Schlüssel, schob sich vom Tresen weg und ging zur Treppe.
»Kann ich das Telefonbuch ausleihen?«, fragte ich.
»Is' kein Telefon auf'm Zimmer«, entgegnete er knapp.
»Ich habe ein Handy.«
Ich deutete auf meinen Pappkoffer.
Etwas, was einem Lächeln ähnelte, färbte sein Gesicht rot. Er nickte zum Tisch mit den Plastikblumen und dem Pokal. Ich holte das Osloer Branchenbuch, das mit einigen zweifelhaften Wochenzeitschriften dort lag, und folgte ihm zwei Treppen hoch und durch einen schäbigen Korridor.
Das Zimmer war ein handliches Viereck mit grauer Tapete auf allen Wänden und an der Decke. Das Bett war breit genug für zwei. In einen verstaubten Schrank mit Bügeln in Schockfarbe hängte ich zwei Hemden, eine graue Hose, einen blauen Rollkragenpullover und einen schmalen, gewebten Schlips. Über dem Waschbecken hing ein Bild von mir. Der Schlachter hatte recht. Ich brauchte Ferien. Unter den Augen hatten sich dunkle Halbkreise in die Haut gebohrt. Ich drehte den Hahn auf und spülte mein Gesicht mit kaltem Wasser. Das Telefonbuch hatte ich auf einen Tisch gelegt, auf dem ein roter Aschenbecher mit Martinireklame stand. Ich nahm es hoch, überlegte es mir aber anders, seufzte und ging zum Fenster. Ich hatte Blick auf die Hegdehaugen Schule, das Rosenborg Kino und das Rosenborg Restaurant. Wenn ich mich ganz weit hinauslehnte und zur anderen Seite schaute, konnte ich einen Zipfel vom Pissoir unterhalb der Fagerborg Kirche sehen.
Aber ich lehnte mich nicht so weit hinaus.

Danke an den randomhouse/btb Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.

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