| 1 Mirakel und Mysterien Leseprobe
Ich werde eine Geschichte erzählen. Es ist unbesonnen, 
          es ist vermessen, ich weiß, ein Resultat des Verlangens, verstanden 
          zu werden; edlere Motive liegen dem nicht zugrunde. Es macht die Sache 
          nicht besser, daß es eine geradezu phantastische Geschichte ist, 
          und schlimmer noch: Ich werde sie ganz ohne Ironie erzählen.Aber es gibt einen Anlaß für meinen Wunsch, die Geschichte 
          zu berichten, nämlich diesen: Vor einigen Tagen erwachte ich sehr 
          früh, noch ehe die Nacht vorbei war, stand auf und sah lange zum 
          Fenster hinaus, das nun schon seit einiger Zeit mein einziges Tor zur 
          Welt ist. Es war dunkel, und die Storgata war eingehüllt in grauweiße 
          Nebel, Spätherbstnebel. In diesem Gewaber waren die Konturen der 
          Häuser verzerrt, akzentuiert von der gelben Glut der Straßenlaternen; 
          die Farben der Fassaden und Leuchtreklamen waren gedämpft, als 
          hätte sie jemand mit schmutziger Kalkfarbe flüchtig übergestrichen. 
          Eine leichte Brise begann die Nebelschwaden zu zerreißen und in 
          langen Fetzen die Straße entlangzutreiben; sie wirkten seidig, 
          feucht. Ein Lieferwagen fuhr langsam durch die Straße, hielt hier 
          und da und entlud in Plastik verpackte Zeitungsstapel. Das war lange 
          Zeit die einzige Bewegung, die ich wahrnahm.
 Ich stand da und dachte, was für ein merkwürdiges und unerwartetes 
        Schicksal mich getroffen hatte; ja, so gänzlich unerwartet für 
        einen Mann meines Schlages, einen interessierten Zuschauer, der nie den 
        Ehrgeiz hatte, etwas Wesentliches zu bewirken. Ich verweilte bei dem Wort 
        Schicksal, das die Leute auf so unterschiedliche Weise verwenden: Für 
        manche beinhaltet es etwas Vorherbestimmtes, das Schicksal ist die Erbsünde 
        selbst, etwas, was von Geburt an festgelegt ist, etwas, dem man sich nicht 
        entziehen kann. Unsere Schicksale werden von Gott geschliffen, nachdem 
        wir sie grob zurechtgehauen haben, sagte Hamlet; das ist eine Variante. 
        Für wiederum andere bedeutet Schicksal einfach, daß es gekommen 
        ist, wie es kommen mußte, post factum, oder que sera sera, wenn 
        man einen leichteren Ton bevorzugt. Ich selbst fragte mich, als ich dort 
        stand, ob das Schicksal vielleicht nur ein Zusammentreffen von zwei oder 
        mehr Begebenheiten, Elementen, Faktoren ist. In dem Fall, dachte ich, 
        mußte mein Schicksal das Ergebnis eines Zusammentreffens von Geheimnissen, 
        Bösem, Glauben, Mord und Irrsinn sein.
  Möglicherweise auch meinem eigenen Irrsinn. Es 
          gibt genug Menschen in dieser Stadt und weit über ihre Grenzen 
          hinaus, die schwören würden, daß ich wahnsinnig bin; 
          übergeschnappt, vollkommen irre. Manche sagen auch, ich sei verflucht, 
          ich habe gehört, wie dieses Wort fiel. Vielleicht bin ich es. Das 
          wäre auch eine Möglichkeit. Daß ich an Gott glaube, 
          schließt nicht aus, daß der Teufel an mich glaubt.Ich kann deshalb auch nicht reinen Gewissens behaupten, daß ich 
          nicht verrückt bin, aber mir geht es wie den meisten von uns: Ich 
          dreh nur durch bei Nord-Nordwest; wenn der Wind von Süden kommt, 
          kann ich einen Habicht von einer Taube unterscheiden. Doch alles, was 
          passierte, geschah im Oktoberland, im Novemberland, und der Wind blies 
          aus Süd-Südwest. Jedoch möchte ich zu meiner Verteidigung 
          sagen, daß dieses Land ein Land ist, in dem die Konturen verschwommen 
          sind und ein Mann es schwer hat, Halt zu finden, wenn er stolpert, deshalb 
          glaube ich nicht, daß mein Wahnsinn oder der Fluch, der eventuell 
          auf mir liegt, etwas mit der Sache zu tun hat  obwohl ich mir 
          selbst eingestehen mußte, wie ich dort stand und in den Nebel 
          hinaussah, daß ich vielleicht nie eine Vorstellung davon hatte, 
          wo die Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn verläuft.
 Es waren schwere Gedanken, die mir an diesem Morgen durch den Kopf gingen, 
          mir war keineswegs leicht ums Herz, ich war nicht in der Stimmung, »Que 
          sera sera« zu sagen. Vielleicht ist mir nie leicht ums Herz gewesen, 
          vielleicht ist gerade das mein Schicksal.
 Als ich eine halbe Stunde oder länger dort gestanden hatte, sah 
          ich dies: Ein Auto tauchte durch einen Riß im Nebel am Nordende 
          der Storgata auf. Es kam die Straße entlang auf mein Fenster zu, 
          etwas unsicher, als säße ein Betrunkener am Steuer. Es parkte 
          am Bürgersteig direkt unter mir, und die Tür ging auf; all 
          das sah ich durch den Nebel, nur Umrisse, Schatten innerhalb der Schatten, 
          Bewegungen im diffusen Novemberland. Aus dem Auto stieg ein Mann, zittrig, 
          als würde er gleich fallen. Als er ganz dicht heran war, direkt 
          unter meinem Fenster, machte er eine seltsame Geste, und da begriff 
          ich, daß ich Zeuge eines Mirakels war.
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Das ist ein starkes Wort, ich weiß. In den letzten Wochen habe 
          ich soviel erlebt, was auf den ersten Blick wunderbarer erscheinen konnte 
          als das, was sich an diesem frühen Morgen vor meinen Augen abspielte. 
          Trotzdem zögere ich nicht, dieses Wort zu gebrauchen. Bei allem, 
          was geschehen ist, war dies das größte Mirakel von allen.Danke an den Piper Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Was er tat und wer er war, werde ich am Schluß erzählen. 
          Im Moment sage ich nicht mehr darüber, aber glauben Sie mir, ich 
          werde darauf zurückkommen; verlassen Sie sich darauf, ich werde 
          alles erzählen. Aber lassen Sie es mich auf meine Weise tun.
 In manchen Fällen  was die Details in meiner Geschichte angeht 
           war ich dabei, als es passierte, in anderen Fällen war ich 
          es nicht. Wäre ich dort gewesen, wäre vielleicht nichts geschehen, 
          und es hätte nichts zu erzählen gegeben. Aber ich war nicht 
          dort, als es passierte, und alles, was ich jetzt tun kann, ist, es zu 
          berichten.
 Und nichts davon ist gelogen. Aber es ist meine Geschichte, und ich 
          muß sie auf meine Weise erzählen, und ich werde ein feines 
          Netz weben aus dem, was ich selbst erlebt, und dem, was ich erfahren 
          habe, und beides zusammen ist die Wahrheit. Ja, vertrauen Sie mir: Beides 
          zusammen ist die Wirklichkeit.
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