| 1 Leseprobe
Am Tag des Propheten Elisa lege ich mich gegen Abend bäuchlings 
          auf den Steinfußboden, die Arme seitlich ausgestreckt, entspannt. 
          Ich habe das eng anliegende hautfarbene Glasperlenkleid an, dasselbe 
          Abjektkleid, das jede von uns, eine nach der anderen, angezogen hat.Auf dem Rücken des Kleides und vorn, unten am Saum, klebt getrocknetes 
          Blut, das Blut einer jungen Frau, die, um den Heimweg von ihrem Polterabend 
          abzukürzen, einen dunklen Park durchquerte. Die rostroten verblassten 
          Schandflecke an dem Kleid sind wie psychedelischer Zierrat.
 Maaru hat mir mit ihrer scharfen Chirurgenschere gerade die Haare abgeschnitten, 
          und Riikka hat mir einen Kranz aus unscheinbaren weißen, aber 
          berauschend duftenden Orchideenblüten aufgesetzt. Um den Hals ist 
          mir eine Kamee an einem Samtband gelegt worden. Johanna und Kristiina 
          haben mir die nackten Füße zu Drei-Zoll-Lilien gebunden. 
          Das hat eine extreme Wirkung. Man hat es niemals als chinesische Folter 
          bezeichnet - so wie das Ausreißen von Zähnen oder Nägeln. 
          Man nannte es Rolle, die Rolle der Frau. Durch die Glaswände des 
          Seerosenhauses sehe ich, wie die großen, an den Rändern leicht 
          aufwärts gebogenen Schneeflocken herabschweben wie Konfetti in 
          amerikanischen Filmen, wenn der frisch gewählte Senator im offenen 
          Wagen winkend in die Stadt einzieht.
 Für einen Augenblick bedeckt ein weißer Schleier das Glasdach 
          des Seerosenhauses, schmilzt aber ebenso rasch, wie er herabgefallen 
          ist.
 
 Es ist Juni, der Abend des Tages des Propheten Elisa, und der Schnee 
          ist ein großartiges Omen, wie Maaru findet.Die Frauen kommen ganz 
          nahe heran, sie versammeln sich um mich, stehen auf meinen abgefallenen 
          Locken und singen leise. Saaras klarer Sopran schwebt hoch über 
          allen anderen.
 
 Ihre blassblauen Kleider riechen nach Schweiß und etwas Strengem. 
          An den Spitzen ihrer Stiefel mit den dicken Sohlen ist der Schmutz zu
 einem grauen Puzzle getrocknet. Leena-Kaisa fasst als Erste nach mir.
 Wir tragen dich auf unseren Armen, damit du dir den Fuß nicht 
          an einem Stein verletzt. Du wirst über den Löwen und die Kreuzotter 
          hinwegschreiten, du wirst den jungen Löwen und den alten Drachen 
          niedertreten.
 
          Ich war mir nicht ganz sicher, wie das alles enden würde, aber 
          andererseits hatte ich das Gefühl, dass mir nichts Böses geschehen 
          könne.
 2
 
 Wer hätte geglaubt, dass sieben Frauen Finnland plötzlich 
          auf die Weltkarte katapultieren würden.
 In die Nachrichten von CBS, NBC und ABC, gleich nach den japanischen 
          Finanzmärkten, der Rohstoffpreisentwicklung und den neuesten Konflikten 
          im Nahen Osten, in Afrika und auf dem Balkan.
 
 Time, Der Spiegel, Le Monde.
 
 Bulletins, Satelliten, die Globe-Gobelins des World Wide Web.
 
 The National Inquirer, Super Channel, Crime International.
 
 Sie haben wahr und wahrhaftig die Nachrichtenschwelle überschritten.Die 
          Massenmedien der Welt verbreiteten sieben ernste Frauengesichter, von 
          denen kein einziges an Glenn Close, geschweige denn an Sharon Stone 
          erinnerte.
 Das kleine Land im Norden, früher bekannt für seine blauäugige 
          Tapferkeit, die Sauna und blau schimmernde Seen, später für 
          seine Selbstmorde, seine Mobiltelefone und seine Probleme mit der landwirtschaftlichenÜberproduktion, 
          das sich soeben vertrauensvoll bei Europa untergehakt hatte.In einigen 
          Medien draußen in der Welt vergaß man nicht, die letzten 
          finnischen Präsidentschaftswahlen zu erwähnen, bei denen das 
          Fünf-Millionen-Volk beinahe eine Frau in das Präsidentenamt 
          gewählt hätte.
 Wahlen, die nach Ansicht von Susan Sontag laut einem Artikel für 
          die New York Review of Books wahrscheinlich sehr viel aufgestaute Energie
 und Aggressionen bei den finnischen Frauen hinterlassen hatten.
 Francesco Alberoni beeilte sich, in einem Interview für die Zeitung 
          »Der Wiener« darauf hinzuweisen, dass das zu plötzlicher 
          Berühmtheit gelangte nördlichste Frauenforschungsinstitut 
          der Welt vom theoretischen Ansatz her auch zentrale Gedankengänge 
          von ihm verwendet oder doch zumindest seine Kernterminologie übernommen 
          habe. War doch die »depressive Überlastung«, die das 
          Institut gerade bei jungen, gebildeten Frauen gegeben sah, einer von 
          Alberonis Haupttermini in seinem Buch »Erotik« gewesen, 
          das es im Handumdrehen geschafft hatte, zu einem europäischen Bestseller 
          zu werden. Dem Wiener-Interview zufolge will Francesco Alberoni als 
          Nächstes über den Feminismus und die Sehnsucht nach der großen 
          Liebe schreiben.
 
 Susan Sontag verwies in ihrem Artikel auf ihr Buch »Die Reise 
          nach Hanoi«, das etwa zwei Jahrzehnte zuvor erschienen war. Auf 
          dieser Reise waren Sontag die wahren Unterschiede zwischen den verschiedenen 
          Generationen von Frauen erst so richtig aufgegangen. »Manche mussten
 nach Hanoi fahren, um zu verstehen, was in New York passiert. Vielleicht 
          müsste man jetzt nach Helsinki fahren, um zu verstehen, was in 
          Hanoi passiert«, mutmaßte Sontag.
 »Die Töchter und Enkelinnen jener Generation von Frauen, 
          die man zur Prostitution gezwungen hatte, bauen sich jetzt eine Schwindel 
          erregende Karriere nicht nur im eigenen Land, sondern auch in der internationalen 
          Geschäftswelt auf«,
 erklärte Sontag.
 »Ihre Mütter und Großmütter, die nichts anderes 
          gelernt hatten, als mit Geishakugeln zu trainieren, wurden in den siebziger 
          Jahren auf die Herstellung von Pfeifenreinigern, Flaschen- und Toilettenbürsten 
          umgeschult. Ich wage mir nicht vorzustellen, welche Vision sich hinter 
          den umflorten Blicken dieser jungen Frauen verbirgt.«
 
 »Wenn die Schüsse von Sarajewo, der Grund für 
          den ersten Weltkrieg, nicht gefallen wären, hätte es bald 
          irgendein anderes Ereignis gegeben, das geeignet gewesen wäre, 
          die ins Unerträgliche gewachsene Spannung zu lösen«, 
          folgerte die holländische Historikerin und EU-Parlamentarierin 
          Anneke van Maerlant in ihrer viel zitierten Rede vor dem Europaparlament 
          in Straßburg und fuhr fort: »Das Phänomen ähnelt 
          den Auslösern für eine Panik, und deshalb gilt dasselbe auch 
          für eine drohende Panik und die Mittel, eine Unzufriedenheit abzustellen: 
          Nur wenn man die primären Ursachen beseitigt, kann man eine schwelende 
          Unzufriedenheit im Keim ersticken. Es nützt nichts, die sekundären 
          Gründe zu beseitigen, wie das eingangs genannte Beispiel gezeigt 
          hat, weil unbewusst doch nur nach einem anderen Reiz gesucht werden 
          würde. Die primären Gründe sind psychologischer Natur 
          und folglich weniger konkret als beispielsweise die zu Kriegszeiten 
          auftretenden Schwierigkeiten mit Nahrungsmitteln, Unterbringung und 
          Dienstleistungen oder Urlaub. Auch die Forderungen der gut ausgebildeten 
          europäischen Frauen, die in den letzten Jahren eine Mischung aus 
          Konkretem und Abstraktem waren, sind offensichtlich nicht ernst genug 
          genommen worden. Es wurden vage Versprechungen gemacht und Hoffnungen 
          geweckt. Die Entwicklung ist jedoch überall in Europa in entgegengesetzter 
          Richtung zu dem verlaufen, was die Frauen erwartet hatten. Wenn ich 
          daran denke, was in Finnland geschehen ist, dann hoffe ich, dass wir 
          hier keinen Präzedenzfall haben. Mir fällt eine alte Faustregel 
          aus der Armee ein, die davor warnt, Untergebenen wiederholt halbherzige 
        Versprechungen zu machen. So etwas kann unabsehbare Folgen haben.«
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Mit Computeranimationen belebte Landkartenbilder aus Finnland: ein kornblumenäugiges 
          Mädchen, das die rechte Hand (zum Schlag oder zum Gruß?) 
          erhebt, blonde Zöpfe und breite Hüften, auf der Schürze 
          viele dunkle, bläuliche Flecke; ich war wohl kaum die Einzige, 
          die statt an tausend Seen an Blut dachte.Danke an den btb/Goldmann Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Danach auch einige psychohistorische Koordinaten. Die finnischen Männer 
          und die Zähigkeit. The Brave Old Boys of Finland. Der Geist des 
          Winterkrieges. Die Langstreckenläufer. Die Eishockeyspieler. Der 
          glatzköpfige Präsident und die Pelzmützengesandtschaften 
          aus dem Osten.
 Jetzt also die Frauen. Die Frauen des Mitternachtsinstituts. Die Myzel-Frauen. 
          Sieben blasse und unübersehbar ernste Frauengesichter. Johanna, 
          Kristiina und Sari auf dem Bild mit Brille. Maaru mit schwarzer Augenklappe 
          am Haaransatz, ihr Lieblingsband. Furious Feminists of Finland? Blonds 
          Become Bold? Einige Schlagzeilen klangen nach Madonna.
 
 In den von Chefredakteurinnen verantworteten Nachrichten wurde oft der 
          Backlash erwähnt, dramatisch wie ein Krimineller, Mr. Backlash, 
          der gefürchtete Terrorist, der Carlos des Feminismus, von dem man 
          nie weiß, wann er das nächste Mal zuschlagen wird.
 
 »Backlash kills? The Real Battle of 90's finally started in Finland?«, 
          titelte die neu gestaltete Ms. breit.
 Die dänische Psychiaterin Jenny Bredesen kommentierte in derselben 
          Zeitung in einem Artikel unter der Überschrift »Dancing through 
          the masculine minefield« den Vorfall aus Finnland als typische 
          weibliche Frustration der neunziger Jahre, und auch sie suchte die Symbolik 
          in den großen Meldungen der vorangegangenen Jahre: »Für 
          die Frauen Finnlands, das mit wirtschaftlichen Problemen ringt, ist 
          es weiterhin sehr schwer, auf den Gipfel der Macht zu gelangen, und, 
          wie man aus dem erst kurze Zeit zurückliegenden Estonia-Unglück 
          schließen kann, nahezu unmöglich, sich auch nur auf das Oberdeck 
          eines untergehenden Schiffes zu retten. Trotz allem Gerede von der Gleichberechtigung 
          ist der Widerspruch zwischen Erwartungen und Wirklichkeit der Frauen, 
          zumal der jungen, gebildeten, weiterhin allzu groß. Und wie immer 
          zu Zeiten hoher prinzipieller Affektbereitschaft kann das Missverständnis 
          zwischen Reiz und Reaktion dramatisch anwachsen.«
 »Gehen ins Gefängnis bald Frauen und Kinder zuerst?«, 
          fragten kürzlich die führenden Kriminologen Europas auf ihrem 
          Kongress in Berlin.
 David James Smith beleuchtet in seinem Buch »The Sleep of Reason«, 
          wie schwierig es ist, die Gewalttätigkeit und Kriminalität 
          von Kindern zu erklären. Er behandelt darin einen Kindermord, der 
          ganz England aufrüttelte und bei dem zwei zehnjährige Jungen 
          ein zweijähriges Kind aus Liverpool entführten und später 
          zu Tode quälten.
 
 Auch in Norwegen, der Schweiz, Frankreich und Polen haben Kinder in 
          den letzten Jahren grausame Tötungsdelikte sowie Misshandlungen 
          begangen.
 
 Die oben genannten englischen Jungen handelten vor dem Hintergrund von 
          Arbeitslosigkeit, Eheproblemen und Alkoholismus. Zu Hause sah man sich 
          im Fernsehen stundenlang Gewaltfilme an, von denen einer immer grausamer 
          war als der andere. Ein gemeinsames Familienfrühstück,
 feste Zeiten für das Nachhausekommen oder Abendgebete gab es nicht. 
          In der Schule fühlten sich die Jungen nicht wohl, sie wurden automatisch 
          in Sonderschulklassen abgeschoben. Die Verhältnisse waren instabil, 
          aber keineswegs außergewöhnlich.
 
 Als man die Jungen vor Gericht führte, lutschten sie an Lollis 
          und sagten, sie sehnten sich nach ihrer Mutter.
 
 Warum erregt ein Mord, den eine Frau begangen hat, die Gemüter 
          ebenso sehr wie ein von einem Kind begangener?
 Smith verweist auf Rousseaus Erziehungsroman »Emile«; danach 
          befindet sich der Verstand eines Kindes im Schlafzustand, und die Bosheit 
          liegt in der Unvernunft, im Fehlen jeglicher Vernunft.
 Zu Zeiten Rousseaus waren Frauen und Kinder unentwickelte Kreaturen 
          von ein und derselben Sorte. Aber die zunehmende Aggressivität 
          und Kriminalität von Frauen - auch die Tendenz zu äußerst 
          gewalttätiger Selbstverteidigung bei Überfällen - sind 
          nicht mehr mit dem Fehlen von Verstand zu erklären. Vielleicht 
          sogar eher umgekehrt?
 
 Die englische Kriminologin Jill Radford, die Finnland aus eigener Anschauung 
          kennt, erinnerte die finnischen Wissenschaftler daran, dass der uralte 
          Mythos von der Sexualität der Frau als Wurzel allen Übels, 
          der in unserer Kultur latent schwelende Frauenhass allmählich die 
          Aufarbeitung der Verbrechen bestimmt, an denen Frauen - sei es als Opfer, 
          sei es als Täterinnen - beteiligt sind.
 
 Eine englische Bibliothekarin, die von ihrem früheren Freund umgebracht 
          wurde, galt zuletzt als nahezu selbst Schuld an ihrem Tod - nachdem
 ihr Freund seine Erinnerungen an ihre gemeinsamen Liebesnächte an 
        die Presse weitergegeben hatte. An Stelle von sachlichen Analysen des 
        Tötungsdelikts waren es die facettenreichen Sexspiele der Bibliothekarin, 
        die monatelang die Schlagzeilen der englischen Zeitungen beherrschten.
 
 3
 
 Die Zeitungen in Finnland erzielten Spitzenumsätze damit, dass sie 
        sich darin überboten, die persönlichen Verhältnisse der 
        Institutsfrauen zu sezieren. Klassenfotos, Beurteilungen ihrer Lehrer, 
        Erinnerungen von Freunden, laienpsychologische Profile. (Von den Eltern 
        ist Kristiina Kukkonens Mutter die Einzige, die sich öffentlich an 
        ihre Tochter erinnert und herzige Fotos ihres Kindes aus dem Familienalbum 
        an die Öffentlichkeit gibt.)
 
 Spitzensachverständige verschiedenster Fachgebiete erörterten 
        im Fernsehen in Podiumsgesprächen die Erziehung der »postindustriellen 
        Mädchen«, zum x-ten Male die Gewaltfilme im Fernsehen sowie 
        die Auswirkungen des Niedergangs eines europäischen Wohlfahrtsstaats 
        auf junge, gebildete Frauen.
 In mancherlei Hinsicht kam es so, wie Jill Radford es prophezeit hatte. 
        Die patriarchalische Psychomafia, um einen Terminus von Maaru zu gebrauchen, 
        nahm begierig die Vaterbeziehungen, die Mutterbeziehungen, mögliche 
        Fälle von Inzest, die Männerbeziehungen, die Besuche beim Gynäkologen 
        und die Aborte der Frauen des Mitternachtsinstituts unter die Lupe.
 Über die persönlichen Verhältnisse der Männer - das 
        Wort Opfer wurde durchweg vermieden - machte man sich in Finnland deutlich 
        weniger
 Gedanken als anderswo, obwohl es offenkundig war, dass »sie alle 
        in Bezug auf die Frauen und die Sexualität einen kongruenten Hintergrund
 hatten«, wie der Pate aller Analytiker es taktvoll formulierte.
 
 Die Neugier - und der Unternehmungsgeist - des breiten finnischen Publikums 
        nahm im Zusammenhang mit »den Morden der Frauenwoche« neue, 
        überraschende Formen an.
 Viele Helsinkier Wassertaxi-Unternehmen hatten die Idee, in das Angebot 
        ihrer Sommertouren auch die Altstadtbucht und Lammassaari, die Schafsinsel, 
        aufzunehmen, die der Abstinenzlerverein »Morgenröte« 
        im Jahr 1904 von der Witwe Lybeck als Erholungsgelände angemietet 
        hatte, obwohl man vom Wasser aus vom Hauptgebäude der Insel, dem 
        Nordlandhaus, und erst recht vom »Haus der Müden Frauen« 
        lediglich ein hinter alten Bäumen hervorschimmerndes Stückchen 
        Dach und den Glockenturm sieht.
 
 Die sieben Hektar große, dicht bewaldete Insel mitten in Helsinki 
        erlebte nach den Ereignissen um das Mitternachtsinstitut ein so heftiges 
        Comeback, dass Naturschützer schließlich die Scharen der Neugierigen 
        von dem Langholzsteg, der durch den Schilfgürtel auf die unter Naturschutz 
        stehende Insel führt, fern halten mussten. Der reiche Vogelbestand 
        der Altstadtbucht wurde von den Wochenendausflügen der Massen nachhaltig 
        gestört.
 Auch ich selbst war - die dunkle Brille fest auf der Nase, obwohl meine 
        Fotos auf Anweisung von Kommissar Harakka nirgendwo veröffentlicht
 worden waren - bei einer der ersten geführten Touren mit auf der 
        Insel.
 
 Damals war erst knapp ein Jahr nach unserer letzten gemeinsamen Mahlzeit 
        vergangen; eine gute Frage, warum ich mir überhaupt die Geschichte 
        der Insel und der Arbeitervereinigung anhören ging und im Kielwasser 
        der neugierigen Touristengruppe die Höfe und Ufer kreuz und quer 
        durchwanderte.
 
 Während ich über das dicke Wurzelwerk sprang, erinnerte ich 
        mich daran, wie unsere Insel vor einem Jahr aussah, als wir mitten in 
        der Nacht
 im Gänsemarsch von der Pornaistenhalbinsel aus über den Langholzsteg 
        gingen, vorneweg Johanna mit der Taschenlampe, hinter mir Maaru, die leise 
        Cindy Lauper summte, dann plötzlich das große gelbe Schild 
        am Ende des Langholzstegs: Abweichen von den markierten Wegen streng verboten!
 
 Die flachsköpfige Archivarin der Arbeitervereinigung führte 
        die Neugierigen von einer Markierung zur nächsten über die Schafsinsel 
        und erzählte energisch, an welcher Stelle der Insel sich zu Beginn 
        des Jahrhunderts die Ställe für Pferde und Kühe sowie die 
        Pferdeweiden befunden hatten, wo die Riesenschaukel, die Krickettbahnen 
        und der Badestrand gewesen waren, wann die Glocken im Turm geläutet 
        wurden und welche Theaterstücke die Ausstellungsgesellschaft Schafsinsel 
        aufführte. Warum das kleinere Haus tatsächlich Ruhestätte, 
        d.h. Haus der Müden Frauen, hieß. Und warum an der Tür 
        eines verkommenen Zimmers geschrieben stand: »Die Schweigsamen«.
 
 Nein, einen anderen Weg auf die Insel gibt es nicht, und auch der Pfad 
        durch die Schilfgürtel steht im Frühjahr und im Herbst unter 
        Wasser.
 Vierbeinige Freunde dürfen nicht in das Naturschutzgebiet mitgebracht 
        werden, die Gehilfen der Polizisten waren seit Jahren die ersten Hunde
 auf der Insel, erläuterte die Archivarin. Zu Beginn des Jahrhunderts 
        wurde für die Schafsinsel eine Dampfschifffahrtsgesellschaft gegründet, 
        deren Schiff namens »Morgenröte« dienstags und donnerstags 
        die Genossen gegen eine Gebühr von zehn Penni vom Kaisaniemi-Ufer 
        zum Südanleger der Sommerkolonie auf die Insel brachte; das Mitgliedsbuch 
        mit dem bezahlten Beitrag musste man bei sich haben.
 
 Lächeln. Überraschende Ausblicke auf die Hauptstadt, tatsächlich. 
        Man denke. Mitten im Bekannten, und doch: ein ganz fremder Blickwinkel.
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