| Montag, 17. Februar Leseprobe
Rebecka Martinsson wurde von ihrem Keuchen geweckt, 
          als die Unruhe ihren Körper erfasste. Sie riss in der Dunkelheit 
          die Augen auf. Genau an der Grenze zwischen Traum und Wachen hatte sie 
          das deutliche Gefühl, dass da jemand in ihrer Wohnung war. Sie 
          blieb ganz still liegen und lauschte, aber sie hörte nur ihr eigenes 
          Herz, das wie ein verängstigter Hase durch ihre Brust zu jagen 
          schien. Ihre Finger tasteten nach dem Wecker auf dem Nachttisch und 
          fanden den kleinen Leuchtknopf. Viertel vor vier. Vier Stunden zuvor 
          war sie schlafen gegangen, und nun war sie bereits zum zweiten Mal aufgewacht. 
          Das liegt an der Arbeit, dachte sie. Ich arbeite zu viel. Und deshalb 
          kommen meine Gedanken nachts ebenso wenig zur Ruhe wie ein Hamster in 
          einem ungeölten Laufrad. Ihr Kopf und ihr Nacken taten weh. Offenbar 
          hatte sie im Schlaf mit den Zähnen geknirscht. Da konnte sie auch 
          gleich aufstehen. Sie wickelte sich in ihre Decke und ging in die Küche. 
          Ihre Füße fanden den Weg auch im Dunkeln, deshalb brauchte 
          sie kein Licht. Sie schaltete Kaffeemaschine und Radio ein. Immer wieder 
          erklang das Pausensignal, wie ein tonloser Gebetsruf, während das 
          Wasser in den Filter tropfte und sie duschte. Ihre langen Haare mussten 
          von selbst trocknen. Sie trank Kaffee und zog sich gleichzeitig an. 
          Während des Wochenendes hatte sie ihre Garderobe für die kommende 
          Woche gebügelt und in den Schrank gehängt. Jetzt war Montag. 
          Auf dem Montagskleiderbügel hingen eine kreideweiße Bluse 
          und ein marineblaues Kostüm von Marella. Sie schnupperte an ihren 
          Strümpfen vom Vortag, die mussten noch einen Tag halten. Sie beulten 
          am Spann ein wenig aus, aber wenn sie sie straff zog und unter ihren 
          Fuß stopfte, fiel das nicht weiter auf. Sie durfte eben tagsüber 
          ihre Schuhe nicht abstreifen. Aber das war nicht wichtig. Um Unterwäsche 
          und Strümpfe könnte sie sich noch Gedanken genug machen, wenn 
          die Möglichkeit bestand, dass jemand ihr beim Ausziehen zusehen 
          würde. Ihre Unterwäsche war verwaschen und grau. Eine Stunde 
          später saß sie in ihrem Büro am Computer. Der Text plätscherte 
          wie ein Gebirgsbach durch ihren Kopf, durch ihre Arme und bis hinaus 
          in ihre über die Tastatur jagenden Finger. Bei der Arbeit fand 
          sie Ruhe. Ihr Unbehagen von vorhin war wie weggeblasen. Das ist schon 
          seltsam, dachte sie. Die ganze Zeit jammere ich mit den Kollegen darüber, 
          wie schrecklich die Arbeit doch ist. Aber wenn ich arbeite, komme ich 
          zur Ruhe. Finde fast eine Art Freude. Wenn ich dagegen nicht arbeite, 
          dann überkommt mich die Unruhe. Das Licht der Straßenlaternen 
          bahnte sich mühsam einen Weg durch die großen, vielfach unterteilten 
          Fenster. Noch immer waren im Klangbild von draußen einzelne Autos 
          zu unterscheiden, aber schon bald würde die Straße sich in 
          ein dumpfes Verkehrsdröhnen verwandeln. Rebecka ließ sich 
          in ihrem Schreibtischsessel zurücksinken und begann mit dem Ausdrucken. 
          Im dunklen Gang draußen erwachte der Drucker zum Leben und machte 
          sich an den ersten Auftrag des Tages. Dann fiel die Tür bei der 
          Rezeption ins Schloss. Rebecka seufzte und schaute auf die Uhr. Zehn 
          vor sechs. Ihre Einsamkeit hatte ein Ende. Sie konnte nicht hören, 
          wer da gekommen war. Die weichen Teppiche auf dem Gang dämpften 
          alle Schritte, aber nach einer Weile wurde die Tür zu ihrem Zimmer 
          geöffnet.  »Darf man stören?«Es war Maria Taube. Sie stieß die Tür mit der Hüfte 
          auf, denn sie hielt in jeder Hand eine Kaffeetasse. Rebeckas Computerausdruck 
          klemmte unter ihrem rechten Arm. Beide Frauen arbeiteten als frischgebackene 
          Anwältinnen mit Spezialgebiet Steuerrecht in der Kanzlei Meijer 
          & Ditzinger. Die Kanzlei lag im Obergeschoss eines schönen 
          Jugendstilgebäudes in der Birger Jarlsgatan. Der Flur war von semi-antiken 
          Perserteppichen bedeckt, und an einigen Stellen standen gediegene Sofas 
          und bequeme Sessel aus altem Leder. Alles strahlte Erfahrung, Einfluss, 
          Geld und Kompetenz aus. Es war ein Büro, das den Mandanten das 
          Gefühl gab, sich hier in sicherer Obhut zu befinden und sorgsam 
          betreut zu werden.
 »Wenn man stirbt, wird man so müde sein, dass man sich wünscht, 
          es gäbe kein Leben nach dem Tod«, sagte Maria und stellte 
          eine Tasse auf Rebeckas Schreibtisch. »Aber das gilt natürlich 
          nicht für dich, Maggie Thatcher. Wann bist du heute gekommen? Oder 
          bist du gar nicht erst zu Hause gewesen?« Sie hatten beide den 
          Sonntagabend im Büro verbracht. Maria war als Erste nach Hause 
          gegangen.
 »Ich bin erst seit ein paar Minuten hier«, log Rebecka und 
          nahm Maria den Ausdruck ab. Maria ließ sich in den Besuchersessel 
          sinken, streifte ihre viel zu teuren Lederschuhe ab und zog die Beine 
          hoch.
 »Was für ein Wetter«, sagte sie. Rebecka schaute überrascht 
          aus dem Fenster. Regen hämmerte gegen die Fensterscheibe. Ihr war 
          das noch gar nicht aufgefallen. Doch dann fiel ihr ein, dass es schon 
          geregnet hatte, als sie ins Büro gekommen war. Aber sie wusste 
          nicht mehr, ob sie zu Fuß gekommen war oder die U-Bahn genommen 
          hatte. Ihr Blick haftete wie hypnotisiert an dem Wasser, das gegen das 
          Fenster prasselte und daran hinunterlief. Stockholmer Winter, dachte 
          sie. Kein Wunder, dass man sein Bewusstsein ausschaltet, wenn man das 
          Haus verlässt. Zu Hause ist das anders. Mit mittwinterblauem Dämmerlicht 
          und knisterndem Schnee. Oder im späten Winter. Wenn man auf Skiern 
          von Omas Haus in Kurravaara am Fluss entlang zur Hütte in Jiekajärvi 
          gelaufen ist und dann eine Pause macht und sich auf den ersten schneefreien 
          Fleck unter einer Tanne setzt. Die Baumrinde, die in der Sonne kupferrot 
          aufglüht. Der Schnee seufzt vor Erschöpfung, wenn er in der 
          Wärme in sich zusammensinkt. Kaffee, Apfelsinen und belegte Brote 
          im Rucksack. Marias Stimme holte sie aus diesen Erinnerungen. Rebeckas 
          Gedanken wehrten sich und wollten weiter ihren Gang gehen, aber sie 
          riss sich zusammen und sah die erhobenen Augenbrauen ihrer Kollegin.
 »Hallo! Ich habe gefragt, ob du die Nachrichten hören willst.«
 »Sicher.«
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Rebecka ließ sich im Sessel zurücksinken und streckte die 
          Hand nach dem Radio auf der Fensterbank aus. Himmel, was ist sie mager, 
          dachte Maria und musterte den Brustkorb ihrer Kollegin, der sich unter 
          deren Jacke abzeichnete. Auf den Rippen kann man doch glatt Xylophon 
          spielen. Rebecka drehte das Radio lauter, und die zwei Frauen saßen 
          mit ihren Kaffeetassen da und senkten ihre Häupter wie zum Gebet. 
          Maria blinzelte. Dabei taten ihre müden Augen weh. Heute würde 
          sie beim Bezirksgericht im Fall Stenman Berufung einlegen müssen. 
          Måns würde sie umbringen, wenn sie ihn um noch mehr Zeit 
          bäte. Sie spürte, wie ihr Zwerchfell brannte. Bis zum Mittagessen 
          durfte sie keinen Kaffee mehr trinken. Hier saß sie wie in einem 
          Dornröschenschloss, Tage und Nächte, Abende und Wochenenden 
          in diesem tristen Büro mit all den verdammten Akten, die sich zum 
          Teufel scheren konnten, all den versoffenen Partnern, die ihr in den 
          Ausschnitt glotzten, und draußen strömte das Leben einfach 
          vorbei. Sie wusste nicht, ob sie weinen oder revoltieren sollte, aber 
          am Ende konnte sie sich nur nach Hause vor den Fernseher schleppen und 
          im angstdämpfenden Geflimmer einnicken.Danke an den C.Bertelsmann Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |