| 1. Kapitel Leseprobe
Ich habe aufgehört zu schlafen. Es gibt sicher tausenderlei Arten 
          einzuschlafen, doch ich beherrsche keine einzige.Früher einmal schlief ich abgrundtief und ohne jede Besinnung. 
          Als ich elf war, sind meine Nächte ein Dunkel geworden, aus dem 
          mich nur ein sehr entschlossener Mensch hat hochreißen können. 
          Bis vor genau vierundsechzig Tagen. Ich schlafe nicht. Aber denke um 
          so mehr. Denken ist vielleicht zuviel gesagt, ich weiß nicht, 
          wie man diese Nächte bezeichnen soll, angefüllt mit ziellosem 
          Umherwandern in einer Riesenwohnung, allzu nahe bei einem Bruder, den 
          ich liebe und zuweilen aus meinem Leben fort wünsche. Heute ist 
          die Wohnung entschieden zu groß, denkt man an das Kind, das sie 
          einst mit seinen Tretautos, mit Geschrei und unerschütterlicher 
          Freude erfüllt hat. Bei meinen nächtlichen Wanderungen bleibe 
          ich manchmal vor Martins Zimmer stehen - das ist der letzte Fixpunkt, 
          wenn Brotbacken, Kühlschrankabtauen und Zehennägelschneiden 
          erledigt sind -, und jedesmal löse ich ganz vorsichtig ein Stück 
          des Klebestreifens, den mein Bruder über der Türklinke angebracht 
          hat: VERPLOMBT.
 
 "Verplombt" meint "Nicht berühren, nicht reingehen, 
          bitte schlaf jetzt, Savanna", so sagt mein Bruder Sam. "Schlaf 
          einfach. "Aber mein Bruder weiß nichts von Schlaflosigkeit, nichts von den 
          Gedanken, die einen Menschen zwischen drei und fünf Uhr morgens 
          beschäftigen können, in den gefährlichen Stunden, in 
          denen der Sonnenaufgang unmöglich erscheint und das Einschlafen 
          ebenso. Wie auch ich es zuvor nicht gewußt habe. Ist man zu diesem 
          Zeitpunkt noch immer wach, kann man sich ebensogut ankleiden, Kaffee 
          trinken und danach, wie zur Täuschung, alles wieder ausziehen sind vorsichtig 
          flüstern, obwohl niemand da ist: "Gute Nacht."
 Manchmal schlafe ich ein. Manchmal schlafe ich überhaupt nicht ein. 
        Manchmal liege ich in einer Art Dämmerzustand und sinne unergründlichen 
        Dingen nach - niemals sind sie interessant. Wenn ich alle Milchpackungen 
        im Laden auf den Kopf stellen würde, wieviel Zeit brauchte es? (Eine 
        Stunde in der Wirklichkeit und vier Stunden verpaßten Schlaf.) Wenn 
        ich versuchen würde, mich an alle gelesenen Romane zu erinnern, deren 
        Titel mit dem Buchstaben P beginnen? Wenn ich völlig still liege, 
        einfach unbeweglich? Wenn ich nur Schlaflosigkeit, ja. Nicht viel weiß 
        ich über die Ursachen, um so mehr über ihre Symptome und Konsequenzen.
 
 Es ist ja wohl klar, daß ich weiß, warum ich nicht schlafe. 
        Ich habe davon gesprochen, wie sich die Sache äußert, ohne 
        auf die Ursachen einzugehen. Aber natürlich weiß ich Bescheid! 
        Doch nehmen mich die Symptome vorläufig so sehr gefangen, daß 
        ich nicht recht Zeit habe, mich mit den Ursachen zu beschäftigen. 
        Man muß wohl sagen, daß ich im Reich der Details und des Auflistens 
        steckengeblieben bin: heute nacht zwei Stunden Schlaf. Der Rest verging 
        damit, den Kühlschrank aufzuräumen, mir wegen der bevorstehenden 
        zwanzig Sommerurlaube Sorgen zu machen, und endete mit einer leichteren 
        Konversation auf portugiesisch zwischen mir und meinem Rekorder. Danach 
        eine Stille so abgrundtief, daß Atem und Herzschlag störend 
        erschienen, mörderisch laut in dem kleinen Teil des Universums, das 
        ich darstelle. Natürlich weiß ich, warum ich nicht schlafe. 
        Laßt mich das Ganze nur erst auflisten. Ordner und Verzeichnisse, 
        das bin ich.
 Zuerst ein paar sporadische Überschriften:
 URSACHE DER SCHLAFLOSIGKEIT: UNENTDECKT.
 PLAN: SICHER, ABER WEISS NOCH NICHT.
 ZEIT: FRÜHSOMMER 1997.
 Danach der Text:Savanna Brandt, fünfunddreißig Jahre alt. Hatte 
        einmal ein Kind. Ein Satz, auf den ich nicht näher eingehen will. 
        Arbeite halbtags in der Ministerialbibliothek, ebenfalls halbtags als 
        Doktorand in einem Stockholmer Institut - manche dort halten mich für 
        "grandios" (ein anspornender, doch immer sorgenvoller Professor), 
        andere für chaotisch und pathetisch (nicht gleichgesinnte Doktoranden). 
        Bewohne eine unverhältnismäßig große Wohnung mit 
        meinem älteren Bruder Sam, diese ist in zwei Hälften geteilt 
        durch eine Doppeltür, die mal von mir, mal von ihm geöffnet 
        wird - immer abhängig von den Lebensumständen. Wir wohnen ganz 
        oben in dem gelben Haus, das auf den Friedhof hinausgeht, in Södermalm, 
        dem inzwischen gefragten Teil von Stockholm. Machen wir das Fenster auf, 
        können wir uns über die Gräber zuwinken, falls das unsere 
        Art wäre. Von unseren Eltern haben mein Bruder und ich eine riesige 
        Wohnung und eine historische Schuld geerbt. Ich weiß nicht, was 
        schwieriger zu verwalten ist.
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Warum schlafe ich nicht? Man kann die Sache auch umdrehen: Warum schlafen 
          so viele andere? Nacht für Nacht, eigentlich furchtbar eintönig. 
          Mehr Menschen sollten erfahren, was man aus einer Nacht wirklich machen 
          kann. Ob es konstruktiv ist, läßt sich noch nicht sagen, ich 
          selbst bin erst bei der vierundsechzigsten Nacht. Schlaflosigkeit - Insomnia. 
          Ich habe so viel zu erzählen, genau das scheint mein Problem zu sein. 
          Dieser vollgestopfte Kopf, die Gedanken, die sich durch das Gehirn bewegen 
          und meine Ruhe in kleine spitze Stücke zertrennen. Der Körper 
          wird ein Kraftfeld, in dem sich Ruhe zuallerletzt einfinden kann. Viel 
          zu erzählen, am Morgen erinnere ich mich an keinen einzigen Gedanken. 
          Nur die Symptome habe ich nicht vergessen: das Schwitzen, die langsam, 
          aber methodisch zunehmende Panik, die Kurzatmigkeit, das Herz, das sich 
          nach oben verschoben zu haben scheint, weil es dicht am Ohr so schonungslos 
          hart schlägt. Heute nacht: drei Stunden Schlaf.Vielen Dank an den Gustav Kiepenheuer Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |