Einer  kennt des anderen Kreuz nicht
            
          "Allen guten  Menschen, denen diese Blätter vor Augen kommen mögen, schicke ich, Eiulvur  Kolbeinsson, der unwürdige Kaplan an der Saurbärkirche des  Rödesand-Kirchspiels, im Bardestrand-Bezirk, Gottes Gruß und den  meinigen."
          
          So beginnt das Buch „Schwarze Schwingen“ (im dänischen  Original: „Svartfugl“), welches im Jahr 1929 in Dänemark erschienen ist und  dann als deutsche Ausgabe 1930 bei Albert Langen in München. Eiulvur  Kolbeinsson, der Nachfolger des alten Gemeindepfarrers, hatte gerade seinen  einzigen Sohn im Alter von fünfzehn Jahren beim Fischfang verloren und wird  durch diesen Schicksalsschlag an eine andere Geschichte erinnert. Er beginnt,  diese niederzuschreiben. Und dieser Kaplan, Eiulvur Kolbeinsson, ist die  eigentliche Hauptfigur dieses Romans.
          
„Meine  Unzulänglichkeit, die Gott gesehen hat, war weit verhängnisvoller. Sie trat da  zutage, wo es sich nicht um Fische und Friestuch handelte, sondern um Blut.  Nicht um Silber und Gold, sondern um Seelen. Du hast sie gesehen, o Herr, diese  Unzulänglichkeit, aber bis heute nur du allein!
              Forderst du mich nun  vor Gericht, da du mein einziges Kind, meinen Sohn Hilarius, als eine  jammervolle Beute blinden Mächten hinwirfst?
              So stehe ich jetzt  vor dir. Stärke du meine Hand, dass es ihr gelingen möge, einen Funken Wahrheit  aus dem dunklen Stein zu schlagen, den ich in meiner Brust trage!“
              
              
              
                            Am Anfang des 19. Jahrhunderts teilten sich zwei sehr  arme Familien den kleinen, sehr abgeschiedenen Bauernhof Syvendeaa bei Rauðisandur  (der Landstrich bezieht seinen Namen vom weitläufigen Strand aus gelblich-rotem  Muschelsand) in den Westfjorden. Die Sache war die, daß Bjarni nach dem Tode  seiner beiden Jungen, die Hälfte seines Hofes an Jon Torgrimsson verpachtet  hatte, der mit seiner Frau und ihren fünf Kindern dahingezogen war. Aber  allmählich wurde im Kirchspiel über die Zwietracht gesprochen, die draußen auf  jenem einsamen Hofe zwischen den beiden Bauern herrschte, ja selbst zwischen  den beiden Ehepartnern untereinander. Eines Wintertages wurde der Bauer Jon  vermisst. Die wahrscheinlichste Erklärung war, daß er auf dem vereisten Weg an  den Klippen entlang abstürzte und ins Meer gefallen ist, als er Heu für seine  Schafe aus einer Hütte holen wollte. Niemand hatte gesehen, wie es zugegangen  war. Niemand hatte ihn seither wiedergesehen. Die Menschen in der Kirchengemeinde  begannen zu glauben, daß Bjarni, der damit anfing, die Witwe des verschwundenen  Bauern Jon Torgrimsson, als seine Geliebte zu betrachten, Jon umgebracht hatte.  Bjarni war ein gutaussehender Mann, aber seine Frau Gudrun war eine unscheinbare  Frau und nicht bei guter Gesundheit. Bjarnason verliebte sich in Steinunn  Sveinsdóttir, die Witwe. Dann starb Gudrun, die Frau von Bjarni. Und in der  Gemeinde entstand das Gerücht, daß  sie ebenfalls  umgebracht worden war. Vergiftet oder zu Tode geschlagen worden ist durch Bjarni  und die Witwe Steinunn. Aber dies geschah alles, bevor gerichtsmedizinische  Untersuchungen in Island auf das Land  kamen und so wurde die Frau begraben und das  Leben ging weiter. Dann wurde die Leiche von Jon Torgrimsson gefunden. Sie lag  wie Treibholz am Strand. Der Leichnam wurde anhand der Kleidung identifiziert  und bei der gesetzlichen Leichenschau entdeckte man eine Verletzung, die von  einer Stichwaffe herrühren konnte und die kaum auf einen Sturz von den Klippen in  das Meer zurückgeführt werden konnte. Sehr bald wurden Bjarni und Steinunn daraufhin  festgenommen und in Untersuchungshaft genommen. Während dieser Zeit starben die  drei  Kinder von Bjarni und Gudrun in der  Obhut des Kaplans, als sie vom Pfarrhaus ausrissen. Sie ertranken oder  erfroren. Trotzdem konnte der Kaplan das Vertrauen von Steinunn und Bjarni erringen  und sie gestanden ihm, daß sie zusammen die zwei anderen umgebracht hatten und dann  versuchten, die Morde als Unglücke zu vertuschen.  Beide wurden zum Tode verurteilt. Steinunn  starb kurz darauf im Gefängnis, Bjarni konnte noch einmal fliehen, wurde aber  wieder gefasst und 1804 wurde er in Dänemark hingerichtet, da sich auf Island  niemand fand, der das Urteil vollstrecken wollte oder konnte.
              
              
                  
                  
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Gunnar Gunnarsson bezieht sich in seinem Roman auf einen  authentischen Kriminalfall. Einem Mordfall, der sich auf dem Hof Sjöundá am Rauðisandur  in den Westfjorden zugetragen hatte. Und dies tut er so genau, dass man  eigentlich von einem historischen Dokumentarroman sprechen könnte. Ein  literarischer Kriminalroman, wie er heutzutage von Andrea Maria Schenkel geschrieben  wird. Ganz verhaftet in der Epoche, in welcher der Roman spielt, in der Sprache  und dem Duktus der damaligen Zeit. Erfunden ist zum größten Teil der Rahmen der  Erzählung, der Erzähler, der Kaplan und seine Familie. Was den eigentlichen  Fall betrifft, hat Gunnarsson von Originaldokumenten (Verhöre, Urteile,  Gerichtsprotokolle) ausgiebig Gebrauch gemacht. Der Doppelmord aber fand so  statt wie im Roman beschrieben. Sicherlich ist es ein Kriminalroman in dem  Sinne, das ihm ein Verbrechen zu Grunde liegt. Doch wenn der Roman als  Kriminalroman klassifiziert wird, muß er in Übereinstimmung mit der  Literaturgattung Kriminalroman sein, muß er genauso kraftvoll und literarisch  sein, wie die anderen Arten der Literatur. Das Buch ist ein Beweis dafür, daß  alle literarischen Genres in dem Sinne mehr oder weniger gleich sind, daß ein  großer Schriftsteller ein literarisches Meisterstück in jeder Gattung schreiben  kann, das er sich zu eigen macht.
              
          Mit „Schwarze Schwingen“ setzte Gunnarsson die Reihe  seiner historischen Romane fort, hielt sich jedoch wesentlich enger an die  Quellen, mit denen er sich eingehend beschäftigt hatte. Der Autor folgte zwar  getreu den historischen Vorlagen, doch ist das Buch kein Tatsachenbericht,  sondern eine dichterische Gestaltung des vorgegebenen Stoffes. Der Stil  erinnert in seiner kräftigen, zügigen Diktion zeitweilig an den der altisländischen  Saga; weist aber auch für den Verfasser typisch-mystisch anmutende Merkmale  auf. Überzeugend sind die so verschiedenartigen Personen gezeichnet. Die  Selbstzweifel des Kaplans, der hin- und hergerissen ist in der Schuldfrage. Der  ständig fragt, was ist böse - was ist gut? Wer trägt hier die Schuld. Hätte das  Verbrechen verhindert werden können, wenn sich die Gemeinde, in diesem Fall der  alte Pfarrer als Amtsperson, sich mit den Gerüchten beschäftigt hätte, die im  Kirchspiel herumginge? Und in wie weit trägt der Kaplan Schuld an diesem  Geschehen. Er, der Bjarni bewunderte und die offiziellen Leichenschauen  vornehmen mußte.? "
Ich fing an zu  glauben, ich bringe den Leuten Unglück, und in meinem Gefolge seien Verbrechen  und grausiger Tod."
          
          Der Roman besticht durch den detailfreudigen Realismus  von Gunnar Gunnarsson. Wie schon in anderen Werken hat Gunnarsson auch hier die  herbe, in ihrer Erhabenheit fesselnde isländische Landschaft in breitangelegte  Bildern eingefangen und ihre Wechselbeziehung zum Menschen aufgezeigt.
          
          Das Buch schließt mit den Selbstzweifeln des Kaplans:
          
"...Diese  unnützen Blätter,- sie sind nun meine Beichte. ...- werde ich ihnen zu zeigen  wagen, was ich hier geschrieben habe? Und wenn ich es tue, - werden sie mir  dann sagen können, welchen Anteil ich in all dem Bösen gehabt habe, was damals  geschah? Wieviel und welchen?
  
          
          
        
        Dank an Halldór Gudmundsson  ("Halldór Laxness - eine Biographie" bei btb) und 
Þráinn Bertelsson ("Walküren"  bei dtv), die  mich mit Informationen  über Gunnar Gunnarsson und den authentischen Mordfall versorgt haben.
          
          
Vielen Dank an Jürgen Ruckh aus Esslingen
            © Juni 2008 Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien