| I. Frei fallen wie im Traum Leseprobe
Stockholm im November
 Es war Kalle, 13, der Vindeln, 55, das Leben rettete. Zumindest 
          stellte Vindeln die Sache bei seiner Vernehmung durch die Polizei so 
          dar. "Wenn Kalle nicht hochgeschaut und mich zur Seite gerissen 
          hätte, hätte ich den Blödsinn auf die Birne gekriegt, 
          und dann säße ich jetzt nicht hier." Das Ganze war eine 
          durch und durch seltsame Geschichte, und zwar aus drei Gründen. 
          Zum einen galt Kalle als stocktaub auf beiden Ohren. Nicht zuletzt glaubte 
          das Vindeln selbst, er war davon überzeugt, dass Kalle jetzt nur 
          noch Blicke, Zeichensprache und körperliche Berührungen verstand. 
          Natürlich redete er mehr mit ihm denn je, aber das gehörte 
          sich doch so, wenn jemand alt und vertrottelt wurde, und Vindeln hatte 
          Kalle immer gut behandelt. Alles andere wäre ja wohl noch schöner 
          gewesen. Zum anderen galt in der empirisch orientierten abendländischen 
          Physik seit langem die Regel, dass ein Körper im freien Fall schneller 
          ist als das Geräusch, das er durch Reibung mit der ihn umgebenden 
          Atmosphäre erzeugt. Dieser Lehre zufolge also hätte es gar 
          kein wahrnehmbares Geräusch geben dürfen. Drittens jedoch, 
          und das war das Allerseltsamste: Wenn nun Kalle tatsächlich etwas 
          gehört, auf die Gefahr reagiert, Vindeln fortgerissen und ihm dadurch 
          das Leben gerettet hatte ... Wie war es dann möglich, dass er das 
          Geräusch des linken Schuhs des Opfers nicht gehört hatte, 
          der ihn nur wenige Sekunden später im Nacken traf und auf der Stelle 
          tot umfallen ließ?
 
                  
 
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 Freitag, 22. November
 
 Zwischen 19.56 und 20.01 am Freitag, dem 22. November, gingen 
          bei der Notrufnummer der Stockholmer Polizeizentrale drei Anrufe ein. 
          Der erste stammte von einem pensionierten Juristen, der auf seinem Balkon 
          im Valhallavägen 38 den gesamten Ereignisverlauf detailliert beobachtet 
          hatte. Der Jurist stellte sich mit Namen und Titel vor und wirkte nicht 
          im Geringsten erschüttert. Seine Darstellung war wortreich, systematisch 
          strukturiert und ansonsten vollkommen absurd. Im Großen und Ganzen 
          lief sein Bericht darauf hinaus, dass ein Verrückter in einem schwarzen 
          langen Mantel und einer Skimütze mit Ohrenklappen einen bedauernswerten 
          Hundebesitzer und dessen Hund erschossen habe. Jetzt laufe der Verrückte 
          im Kreis und schreie wirres Zeug, und der Jurist habe sich trotz der 
          mehreren Grad unter Null auf seinem Balkon aufgehalten, weil seine Frau 
          an Asthma litt und Zigarrenrauch die unangenehme Neigung besaß, 
          sich in den Vorhängen festzusetzen. "Falls der Herr Inspektor 
          das wissen wollte?" Der zweite Anruf kam aus einer Taxizentrale. 
          Ein Fahrer hatte im Valhallavägen 46 eine ältere Dame abgeholt, 
          und als er die Tür aufgehalten hatte, um dem Fahrgast auf den Rücksitz 
          zu helfen, hatte er aus dem Augenwinkel "einen armen Teufel gesehen, 
          der vom Dach dieses Hochhauses stürzte, wo die vielen Studenten 
          wohnen". Der Fahrer war fünfundvierzig Jahre alt und zwanzig 
          Jahre zuvor aus der Türkei nach Schweden gekommen. Er hatte als 
          Kind schon Schlimmeres erlebt und früh gelernt, dass ein jeglich 
          Ding seine Zeit und seinen Ort hat. Deshalb verständigte er per 
          Funk die Zentrale, teilte mit, was er gesehen hatte, und bat die Kollegen, 
          die Polizei zu informieren, damit er die alte Dame zu ihrer Tochter 
          auf ihren in der Nähe von Marsta gelegenen Hof fahren könnte.
  Es war eine gute Tour, und das Leben ging weiter. 
          Anruf Nummer drei stammte von einem Mann, der der Stimme nach am Beginn 
          seiner mittleren Jahre stehen musste. Er wollte nicht verraten, wie 
          er hieß und von wo aus er anrief, aber seine Munterkeit ließ 
          auf die Einnahme von stimulierenden Mitteln schließen. Außerdem 
          hatte er einen guten Rat. "Jetzt ist schon wieder so ein verrückter 
          Student vom Dach gehüpft. Bringt ein paar Eimer mit, wenn ihr ihn 
          aufsammeln kommt." Auf der Polizeizentrale ging alles seinen altbekannten 
          Gang. Als die zuständige Beamtin per Funk Alarm gab, hatte sie 
          bereits beschlossen, sich eher auf den Taxifahrer und den Scherzkeks 
          mit dem guten Rat zu verlassen als auf den wortreichen Juristen, Schießerei, 
          Hund und Eimer ließ sie jedoch unerwähnt. Sie teilte so in 
          etwa mit, dass eine Person aus dem Studentenheim Nyponet im Körsbärvägen 
          gesprungen oder gestürzt und auf dem Bürgersteig oberhalb 
          des Parkplatzes gegenüber der Kreuzung Valhallavägen und Frejgatan 
          gelandet sei. An der angegebenen Stelle befanden sich angeblich ein 
          lebloser Körper sowie eine erregte männliche Person in einem 
          schwarzen Mantel und einer Schirmmütze. War vielleicht gerade ein 
          Streifenwagen in der Nähe, der sich um diese Sache kümmern 
          konnte? Ein solcher Wagen stand gerade nur hundert Meter entfernt am 
          anderen Ende des Valhallvägen. Er gehörte zu Östermalms 
          Wachdistrikt VD 2, und hielt, als per Funk Alarm gegeben wurde, vor 
          der Würstchenbude an der Einfahrt zum Krankenhaus Roslagstull. 
          Im Wagen saßen zwei der Spitzen der Stockholmer Polizei. Hinter 
          dem Lenkrad befand sich Polizeianwärter Oredsson, 24. Oredsson 
          war blond, blauäugig und breitschultrig. Er führte gerade 
          sein letztes Praktikum als Anwärter durch und sollte einen Monat 
          darauf in den regulären Dienst übernommen werden. In seiner 
          Seele loderte die Überzeugung, dass der Kampf gegen die immer stärker 
          anwachsende Kriminalität dadurch in eine entscheidende Phase eintreten 
          werde, an deren Ende schließlich der Sieg des Guten stehen müsse. 
          Auf dem Beifahrersitz saß sein unmittelbarer Vorgesetzter, Polizeianwärter 
          Stridh, fast doppelt so alt wie Oredsson und unter den älteren 
          Kollegen bekannt unter dem Spitznamen "Friede um jeden Preis". 
          Seit die beiden zwei Stunden zuvor ihren Dienst angetreten hatten, waren 
          seine Gedanken ausschließlich um die Wurst mit Kartoffelpüree, 
          Gurken- und Krabbensalat, Senf und Ketchup gekreist, die seinem elenden 
          Dasein eine zumindest vorübergehende Linderung bescheren sollte. 
          Jetzt nahm er bereits ihren Duft wahr und im Kampf um das zwischen ihm 
          und Oredsson befindliche Mikrofon hatte er deshalb natürlich nicht 
          die geringste Chance. "235 hier. Wir hören", teilte Oredsson 
          mit. Allzeit bereit, wie es seine Art war.
 Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als der pensionierte Jurist mit der 
          Dienst habenden Beamtin in der Polizeizentrale telefonierte, verließ 
          Kriminaldirektor Lars M. Johansson, stellvertretender Chef des Landeskriminalamts 
          und M für Martin, seine Wohnung in der Wollmar Yxkullsgatan in 
          Södermalm. Johansson ging mit raschen Schritten und in bester Stimmung 
          die Straße entlang, unterwegs zu seinem ersten Stelldichein mit 
          einer Frau, die sehr gut aussah und vermutlich auch eine unterhaltsame 
          Gesprächspartnerin sein würde. Das Stelldichein sollte in 
          einem in der Nähe gelegenen Restaurant stattfinden, wo hervorragend 
          und preiswert gekocht wurde. Es war ein kalter, sternklarer Abend ohne 
          den geringsten Schneefleck in den Straßen, und das alles war fast 
          eine ideale Kombination für jemanden, der einen klaren Kopf, gute 
          Laune und zugleich trockene Füße behalten will. Lars Martin 
          Johansson war ein allein stehender Mann. In juristischer Hinsicht war 
          er das seit dem nun schon fast zehn Jahre zurückliegenden Tag, 
          an dem seine erste und bisher einzige Gattin ihn verlassen hatte. Sie 
          hatte die beiden Kinder mitgenommen und war zu einem neuen Mann gezogen, 
          um in einem neuen Haus ein neues Leben anzufangen. In seelischer Hinsicht 
          war er sein Leben lang allein gewesen, obwohl er mit sechs Geschwistern 
          und zwei Elternteilen aufgewachsen war, die sich mehr als fünfzig 
          Jahre zuvor kennen gelernt hatten, noch immer miteinander verheiratet 
          waren und dass auch bleiben wollten, bis dass der Tod sie scheide. Johansson 
          hatte die Einsamkeit also nicht etwa geerbt. Als Kind hatte es ihm an 
          Geborgenheit, Nähe und Gesellschaft nicht gefehlt. Das alles hatte 
          es im Übermaß gegeben, und es war immer noch zu haben, wenn 
          er das wollte, aber als er als Erwachsener seine Erinnerung nach glücklichen 
          Kindheitserlebnissen durchforstete, fand er die nur in den Momenten, 
          in denen er wirklich seine Ruhe gehabt hatte. Wenn er einsam auf der 
          Bühne gestanden hatte, als einziger Mitwirkender im Stück, 
          nur er.
 
 Danke an den btb Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.
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