| 1. Tag, Freitag Leseprobe
          Jesper Lund saß in seinem Sessel, auf dem Schoß eine träumende 
          Katze. Dies war die Zeit der Besinnung, des letzten Atemholens vor dem 
          Schlafengehen, nur die Lampe neben dem Sessel brannte noch. Draußen, 
          auf der Nachtseite der Gardinen, pulsierte die Stadt; hier drinnen aber 
          war es still und schwebend, als wäre die Zeit stehengeblieben.Sursa bewegte sich unruhig auf seinem Schoß. Ihre Schnurrhaare 
          zitterten, die Pfoten zuckten; er sah, daß ihre Augen sich unter 
          den geschlossenen Lidern bewegten. Sie hob ihre edle Siamesennase ein 
          wenig, gab einen kleinen schläfrigen Klagelaut von sich und sank 
          wieder zurück.
 Jesper strich ihr sanft über die beigefarbenen Flanken, die sich 
          in regelmäßigen Atemzügen hoben und senkten. Sursa war 
          seit sieben Jahren seine Vertraute, länger, als irgendeine seiner 
          Freundinnen es mit ihm ausgehalten hatte. Sie war nicht weniger stolz 
          und eigensinnig als andere Katzen, eher im Gegenteil, aber gerade deswegen 
          freute er sich, wenn sie ihn schon an der Tür mit einem Miau begrüßte, 
          sobald er spät abends nach Hause kam, oder wenn sie auf seinen 
          Schoß sprang, kaum daß er es sich in einem Sessel bequem 
          gemacht hatte. Sie schmeichelte sich nicht ein, aber sie ließ 
          ihn spüren, daß sie seine Gesellschaft schätzte.
 Jetzt erwachte sie plötzlich auf seinem Schoß. Sie hob den 
          Kopf mit einem Ruck, als hätte sie ein Geräusch gehört, 
          das ihm entgangen war, oder als wäre ihr Traumfilm gerissen.
 Oder war es sein eigener? Ihm war, als hätte er einen Moment zuvor 
          etwas gesehen oder etwas geträumt - nein, es war kein Traum, er 
          war nicht aufgewacht, es war ein eigenartiges Mittelding zwischen etwas 
          Erlebtem und etwas Erinnertem beides zugleich ... Ein Mann, der vor 
          ihm ging, ein grauer Mann.
 Der graue Mann hatte einen Hut auf dem Kopf, einer Filzhut mit schmaler 
        Krempe, so einen, wie ihn heute fast niemand mehr trug, und er trug einen 
        grauen, lodenartiger Mantel, einen knielangen Mantel ohne Gürtel. 
        Er ging ein Stück links vor ihm, so daß Jesper sein Gesicht 
        nicht sehen konnte, nur eine Wange und die Nasenspitze. Er hielt den rechten 
        Arm mit einer ungeduldigen und gebieterischen Geste etwas vom Körper 
        abgespreizt, als wollte er Jesper mit sich ziehen - und Jesper konnte 
        nicht anders als mitgehen, so machtvoll und eindringlich war die Ausstrahlung 
        des grauen Mannes. Sie gingen auf einem Fußweg, der ein Stück 
        über einer grünen Talsohle zu schweben schien. Rechts erhoben 
        sich hohe, majestätische Berge steil und schroff aus dem Tal. An 
        den Bergen entlang verlief eine Eisenbahn. strecke und eine Autobahn. 
        Dann bog der Mann nach links ab, und es war vorbei.Mehr war es nicht, aber Jesper fröstelte bei dem Gedanken daran, 
          und seine Arme überzogen sich mit einer Gänsehaut. Es hatte 
          auf irgendeine Art mit der Geschichte zu tun, über die er nachgrübefte, 
          und es machte diese Geschichte verdammt wichtig, nur hatte er keine 
          Ahnung, warum. Das Bild des Mannes war jetzt verschwunden, aber er konnte 
          es sich wieder vor Augen rufen, er konnte nur nicht sagen, wie es zu 
          dieser Erscheinung gekommen war. Jesper hatte so etwas noch nie vorher 
          erlebt
 Sursa bewegte sich, stand auf, machte einen Buckel, gähnte und 
          sprang hinunter auf den Fußboden. Er hörte, wie sie Wasser 
          aus dem Napf in der Küche trank.
 Jesper blieb noch eine Weile sitzen und versuchte, den kleinen stummen 
          Schock zu überwinden. Er mußte wieder zu dem Fall zurück, 
          in den er unmittelbar vorher vertieft gewesen war. Er riß sich 
          zusammen, ließ die Personen in seinem Kopf Revue passieren und 
          versuchte, das Puzzle zusammenzusetzen - alles, was er wußte, 
          auch das, was er in seinem Artikel ausgelassen hatte.
 Es war ein ganz normaler Tag in der Zeitungsredaktion gewesen, und der 
          Fall, über den Jesper einen Artikel geschrieben hatte, war keine 
          große Sensation. Auch wenn er sich bei der Darstellung auf die 
          Fakten beschränkt hatte, an der Sache war trotzdem etwas eigenartig 
          und beunruhigend: Ein Mann verschwindet spurlos von einer Fähre, 
          die Ehefrau und das kleine Kind sitzen zu Hause, die Ungewißheit 
          ist schrecklich, die Polizei bittet alle, die zur Aufklärung beitragen 
          können, um sachdienliche Hinweise.
 Er hatte durch den täglichen Routineanruf bei Kaffe in der Polizeidirektion 
          von der Geschichte erfahren, und erst am späten Nachmittag, als 
          er sicher sein konnte, daß die Beamten die Angehörigen inzwischen 
          aufgesucht hatten, rief er selbst bei der Ehefrau an und erhielt die 
          Erlaubnis, mit einem Fotografen vorbeizukommen. Sowohl am Telefon als 
          auch während des Interviews hatte die Ehefrau besorgt, aber gefaßt 
          geklungen. Sie war keineswegs außer sich vor Angst, wie sie da 
          auf dem Sofa saß, die kleine Tochter im Arm und den Untermieter 
          oder Hausfreund, oder was immer er sein mochte, als Beistand in der 
          anderen Sofaecke. Bereitwillig hatte sie ihm einige neuere Fotos ihres 
          Mannes überlassen. Eines davon würde morgen erscheinen, vermutlich 
          zusammen mit einem von Madeleines Fotos, das Frau und Kind auf dem Sofa 
          zeigte.
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Der Vennißte, der Komponist Peter Vejland (53)' fuhr am Freitagmorgen 
          von zu Hause los, um eine Woche Urlaub im Sommerhaus eines Bekannten 
          am Ringkøbing Fjord zu machen. Er nahm die Katamaranfähre 
          von Kalundborg, doch als das Schiff in Ärhus anlegte, stand sein 
          Auto verlassen auf dem Wagendeck, und bei der anschließenden gründlichen 
          Durchsuchung des Schiffes wurde der Fahrer nicht gefunden. Während 
          der Überfahrt herrschte kräftiger Wind, und die Polizei schließt 
          nicht aus, daß der Vermißte über Bord gefallen sein 
          könnte.Danke an den Aufbau Taschenbuch Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Aus irgendeinem Grund war das verlassene Auto das stärkste Bild 
          vor Jespers geistigem Auge, obwohl er es gar nicht selbst gesehen hatte. 
          Aber Kaffe hatte es ihm beschrieben, und er sah es lebhaft vor sich: 
          ein großer dunkel. grüner Citroen, der verschlossen und verlassen 
          im dunklen Schiffsbauch stand, während alle anderen Autos hinausfuhren. 
          Dieses Bild hatte etwas Unheilvolleres und Unheimlicheres an sich als 
          ein Unfallwrack auf einer Autobahn; es war, als ob es nicht nur von 
          einem tragischen Vorfall erzählte, sondern auch noch von etwas 
          anderem, das sich dahinter verbarg, von einem Rätsel. Die Polizei 
          in Ärhus hatte dafür gesorgt, daß das Auto an Land gebracht 
          und untersucht wurde. Jesper wußte nicht, wo es sich im Moment 
          befand, aber es sollte wohl zurückgebracht werden - Kaffe hatte 
          erzählt, daß sich eine Menge Gepäck und persönliche 
          Gegenstände darin befanden.
 Sie waren mit dem Taxi zur Wohnung des verschwundenen Mannes in der 
          Nidarosgade gefahren, er und die neue Fotografin. Bevor sie losfuhren, 
          hatten sie sich kurz miteinander bekannt gemacht. "Madeleine Arnvad. 
          Das ist mein erster Job", sagte sie und lächelte entschuldigend. 
          Ansonsten hatte sie keinen Grund, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. 
          Sie arbeitete schnell und effektiv, und die Fotos, die sie ihm anschließend 
          zeigte, waren tadellos.
 Im Taxi hatte er sie über den Fall informiert, oder besser gesagt 
          über das Wenige, was er wußte. Jetzt erinnerte er sich plötzlich 
          an den Geruch ihrer schwarzen Lederjacke, die ihr ein ziemlich robustes 
          Aussehen gab - ganz im Gegensatz zu dem verletzlichen Gesicht. 'Wieso 
          verletzlich? Das lag wohl an dem Mund und der etwas spitzen Nase. Vogelartig.
 Die Nidarosgade war eine der stilleren Straßen im Botschaftsviertel 
          von Østerbro. Große, solide Häuser mit tiefen, breiten 
          Treppenaufgängen; innen geräumige Wohnungen mit hohen Stuckdecken. 
          Jesper blieb stehen und studierte die Fassade, während das Taxi 
          davonfuhr. Laut Adresse lag die Wohnung im ersten Stock links, demnach 
          mußten die Fenster rechts von dem Sandsteinornament über 
          der Haustür zu der betreffenden Wohnung gehören. Sie waren 
          alle geschlossen; dahinter konnte er unauffällige helle Gardinen 
          ausmachen.
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