Manchmal muß ein Buch gegen seinen Verlag verteidigt werden. In Fall  von Torkil Damhaugs "Die  Netzhaut" richten sich die kritischen Einwände gegen die inhaltliche  Ausrichtung des Verlagsmarketings, die den Eindruck hinterlässt, als ob Droemer  sein Produkt einfach nicht verstanden hat.
            
          Zunächst  produzierte der Verlag eine Art Text-Text-Schere zwischen dem Inhalt des Buches  und den Teasern im Katalog und auf der letzten Umschlagseite, die den Eindruck  vermitteln, daß in der "Netzhaut" beliebige Mordgeschichten  verhandelt werden. Lediglich der Klappentext verrät, daß es um den sexuellen  Mißbrauch von Jugendlichen geht. Als der Verlag Damhaugs Krimi für den  deutschen Markt vorbereitete, konnte natürlich niemand ahnen, daß in 2010 in  Deutschland eine ungeheure Fülle an Informationen über den systematischen  sexuellen Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen in Eliteschulen und den  Kirchen sowie über die systematische Verschleierung dieser Verbrechen an die  Öffentlichkeit gelangen würde. Auch die andauernden Debatten über Täter,  Strukturen und Opfer konnte niemand voraussehen. Da sexueller Kindesmißbrauch  aber offensichtlich eine anthropologische Konstante ist, hätte das  Verlagsmarketing ruhig etwas offensiver ausfallen dürfen.
          
          
          Torkil Damhaug  fragt, wie junge Erwachsene leben, die als Kinder mißbraucht wurden, genauer,  welche Bedingungen sie daran hindern, selbst gewalttätig zu werden. Er fragt  auch nach der ethischen Haltung der Psychiater und Psychologen, also der  Berufsgruppen, die den Opfern helfen sollen, sie aber keinesfalls  retraumatisieren dürfen. Diese opferzentrierte Perspektive, die gänzlich ohne  Larmoyanz auskommt, steht in der skandinavischen Kriminalliteratur ziemlich  einzigartig dar. Und weil der Autor nicht nur  über  sein Fachgebiet, die Psychiatrie, reflektiert, sondern auch hervorragend  erzählt, ist ihm ein intelligenter, hochspannender Plot gelungen, der den Leser  bis zur letzten Seite im Unklaren läßt. Übrigens spielt auch die Polizei mit;  schließlich sind doch einige Morde aufzuklären. Die Polizei wird – entgegen den  Verheißungen auf dem Rücktitel – keinesfalls "an die Grenzen ihrer  Belastbarkeit" gebracht, sondern sie ermittelt eher lustlos und letztlich  erfolglos. Der ganze Erzählstrang, zu dem auch eine Affaire zwischen jungem  Polizisten und gestandener Gerichtsmedizinerin gehört, ist schwächer als die  Haupthandlung. Diese Zugeständnisse an die Konventionen des Genres fallen aber  kaum ins Gewicht.
          
          Gewichtiger ist da schon  die Text-Bild-Schere zwischen Inhalt und Cover. Das Buch wirkt wie blutrünstige  angloamerikanische Dutzendware. Der Stadtplan von Oslo im Schutzumschlag ist  ein nettes Gimmick, aber völlig überflüssig. Geht es doch um die innere  Entwicklung der handelnden Personen und nicht um die geografische Lage ihrer  Wohn- und Arbeitsorte. Ebensowenig geglückt ist der deutsche Titel "Die  Netzhaut": Netzhäute kommen gar nicht vor. Der poetische norwegische  Originaltitel "Døden ved vann" (Der nasse Tod, Death by Water) stammt aus dem Poem  "The Waste Land" (Das wüste Land, 1922) von TS Eliot. Er beschreibt eine Situation  abgrundtiefer Verzweiflung und verklammert die Thrillerhandlung. Wird da dem  deutschen Leser nicht zugetraut, eine nicht einmal besonders subtile Anspielung  zu verstehen?
          
          
Vielen Dank an Dr. Kerstin Herbst aus Berlin
© Februar 2011 Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien
        
       
                  
                  
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