|  Leseprobe
Fritz merkte, daß ich zu ihm hinschielte, als wir durch 
        die schmale Tür in eine niedrige Stube traten. Ich fühlte Zorn 
        in mir aufsteigen. Weniger über die augenblickliche merkwürdige 
        Geheimniskrämerei als vielmehr darüber, daß mir so lange 
        Jahre wichtige Aspekte aus dem Leben meiner Familie vorenthalten worden 
        waren. Daß mein biologischer, unbekannter Vater und meine liebe 
        und nun an totaler Demenz leidende Mutter ein Doppelleben geführt 
        hatten, als ob sie Agenten in einem ihnen feindlich gesinnten Land gewesen 
        wären. Die Stube war klein und auf altmodische Weise gemütlich 
        mit schweren Möbeln und naturalistischen Gemälden an der Wand. 
        Rothirsch und wettergebräunter Fischer. Der klassische, kleinbürgerliche 
        Kitsch, dachte ich in meiner akademischen Arroganz. Als ob meine Plakatkunst 
        in meinem Zimer an der Uni irgend etwas anderes war als die Widerspiegelung 
        dessen, was ich und meine Gleichgesinnten nun einmal schön fanden. 
        Waren wir nicht selber ebenso beschränkt in dem, was wir für 
        guten Geschmack hielten? Auf einem schweren Regal standen einige Bücher, 
        meist Kriegs- und Militärgeschichte, wie mir schien. In einer Ecke 
        stand ein abgenutzter Ledersessel neben einem runden Couchtischchen und 
        einem dickbäuchigen schwarzen Kaminofen. Auf dem Tisch lagen drei 
        Bücher, aus denen Lesezeichen herausragten. Die Bücher lagen 
        dort nicht zur Zier. Dort saß der Herr des Hauses und bildete sich. 
        Die Stube roch nach Pfeifenrauch und leicht ungelüftetem Altmännerheim, 
        aber es war eigentlich kein unangenehmer Geruch. Eher etwas muffig wie 
        Fallobst, ein Duft nach Kindheit, der mir den kleinen bäuerlichen 
        Betrieb meiner Großeltern ins Gedächtnis rief, wo ich als ganz 
        kleiner Steppke meine Ferien verbracht hatte. Ich konnte in eine altmodische 
        Küche schauen, in der eine Dame in Karl Viggo Jensens Alter herumhantierte. 
        Sie nickte mir kurz zu und wischte ihre Hände an der Schürze 
        ab, ehe sie in die Stube trat und mir die Hand reichte. Sie war feucht 
        und kühl, aber der Händedruck war fest, und in ihrem faltigen 
        Gesicht saßen klare graue Augen. »Karla Jensen«, sagte sie. »Sie müssen Hunger haben, 
        nun, wo es keine Fähren mehr gibt, auf denen man einen Happen essen 
        konnte.«»Danke für die Einladung«, sagte ich und ließ mich von 
  der altmodischen Einrichtung und Stimmung gefangennehmen. In Kopenhagen vergaß 
  man so etwas. Es gab noch ein Leben auf dem Lande, wo Tempo und Tonfall anders 
  waren. Wo alte Worte und Wendungen existierten, als wäre das Fernsehen 
  nie erfunden worden.
 »Kann das nicht noch eine Viertelstunde warten? Ich würde Irmas Bruder 
  gern noch das Museum zeigen«, sagte Karl Viggo Jensen.
 »Dem steht nichts entgegen«, sagte sie. »Ich habe nur ein 
  paar belegte Brote gemacht. Die können noch eine Viertelstunde stehen, 
  aber wenn der Herr nun Hunger hat …«
 »Das geht schon«, sagte ich.
 »Na, dann lege ich den Schnaps noch mal auf Eis«, sagte sie, als 
  wäre der Aquavit am wichtigsten und nicht die erstaunlichen Düfte, 
  die sich im Zimmer verbreiteten, und ging wieder in ihre Küche.
 Wir durchquerten ein anderes Zimmer, in dem der Tisch für das Mittagsbrot 
  gedeckt war, betraten den Garten und steuerten auf ein niedriges, weißgekalktes 
  Gebäude zu, das früher einmal der Schweinekoben gewesen sein dürfte. 
  Unsere Füße rutschten auf den glitschigen Blättern der Blutbuche 
  aus, die noch vom letzten Herbst dort lagen. Karl Viggo Jensen ging voraus, 
  ich trottete hinterher, und dann kam Fritz, der mit den Füßen schlurfte 
  und ein wenig schnaufte. Er war nicht mehr jung und hatte sich eigentlich nie 
  geschont. Hinterließen Zigarre und Pfeife mittlerweile ihre Spuren in 
  den Lungen meines Bruders? dachte ich und machte mir wirklich Sorgen um ihn. 
  Die Familie ist doch etwas Seltsames, das einen oft nerven kann, aber es ist 
  doch das einzig Dauerhafte, was man hat, auch wenn man es sich nicht selber 
  ausgesucht hat.
 
                  
 
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                    |  |   Es war ein unheimlicher Raum, den wir betraten, obwohl er mit seinen Wandbildern 
          und den kleinen Schaukästen mit Ausstellungsgegenständen einem kleinen 
          Heimatmuseum glich. Das Ausgestellte selbst machte den Raum unheimlich. Es war 
          ein Gedenkzimmer für die SS mit Fotos von Offizieren in schwarzen Uniformen 
          und SS-Runen auf dem Kragen, großen Schwarzweißfotos mit Schlachtszenen, 
          einem Dannebrog mit der Aufschrift »Frikorps Danmark«. Waffen, Orden, 
          verblaßte Briefe und Papiere, Tagebücher anscheinend, Gasmasken, 
          militärische Dienstgradabzeichen, Uniformgegenstände, Hundemarken. 
          Der ganze Scheiß, der auf Schlachtfeldern so übrigbleibt. Karten 
          von den Schlachten am Ilmensee, bei Stalingrad und Narva waren sorgfältig 
          in Glasvitrinen ausgebreitet. Mit Pfeilen und kleinen Buchstaben, die die Regimentszugehörigkeit 
          angaben. Als ob das irgend jemanden interessierte außer denjenigen, der 
          daran teilgenommen hat. Im übrigen waren sie selbst für einen Historiker 
          wie mich unverständlich. Es waren läppische Schlachten an einer häßlichen 
          Front, aber selbstverständlich interessierte die Teilnehmer genau dieser 
          Frontabschnitt mit seinen kleinen Siegen und Niederlagen. In Wirklichkeit ist 
          der Krieg für den gewöhnlichen Soldaten eine Frage des nächsten 
          Grabens und der nächsten Schutzhecke und der nächsten warmen Mahlzeit. 
          So etwas auszustellen, darauf könnte ein kleines Heimatmuseum mit seinen 
          begrenzten Mitteln stolz sein, wenn es nur keine Ausstellung war, die den Verlierern 
          huldigte – und damit dem Bösen. Karl Viggo Jensen sagte nichts, sondern 
          stand an der Tür, während ich die Runde machte und die Exponate betrachtete. 
          Fritz stand in der Ecke und starrte nach unten und scharrte mit den Füßen 
          auf dem sauber gescheuerten Boden. Das ist immer noch ein Schweinestall, dachte 
          ich, sagte aber nichts. Vielleicht war ich einfach ein wenig ängstlich, 
          vielleicht wollte ich Fritzens Gefühle nicht verletzen. Manche Bilder kannte 
          ich sehr gut. Das Freikorps Dänemark auf Heimaturlaub 1942 zum Beispiel. 
          Der dänische Naziführer Frits Clausen hält eine Rede, war ein 
          anderes bekanntes Motiv. C.F. von Schalburg mit seinem kleinen Sohn in SS-Uniform 
          hatte ich auch schon einmal gesehen. Aber eine ganze Reihe anderer Fotos, die 
          ganz gewöhnliche junge Dänen mit Hakenkreuz und Dannebrog an verschiedenen 
          Orten der Ostfront zeigten, war neu für mich. Die Historiker hatten sich 
          mit der Geschichte der Verlierer nicht sehr beschäftigt. Um dieses dunkle 
          Kapitel der Besatzungszeit zu erforschen, hatte es lange Zeit weder Gelder noch 
          Stellen gegeben. Aber beim Herumgehen wurde mir klar, daß dies hier kein 
          nüchternes, wenn auch geheimes Museum war. Es war ein Gedenkraum, der so 
          sorgfältig gehütet und gepflegt wurde, als wäre die ganze Sache 
          ein Teil der Jetztzeit und behandelte nicht die bald sechzig Jahre alte Geschichte 
          der dänischen Landesverräter. Als wenn einige Leute sagen wollten: 
          Wir existieren. Wir wollen nicht vergessen werden. Wir sind ein Teil von euch. 
           
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            | Autor 
              Leif Davidsen |  Auf einem Bild war ein Waffen-SS-Offizier zu sehen, der Karl Viggo Jensen 
        aufs Haar glich, nur in einer weit jüngeren Ausgabe. Wenn er es wirklich 
        war, hatte ich mich in seinem Alter vollkommen verschätzt. Er stand 
        neben einem anderen Mann, den ich als meinen Vater erkannte.Danke an den Zsolnay Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.»Ja, das sind ich und dein Vater, Teddy«, sagte Karl Viggo Jensen. 
  Er war hinter mich getreten, ohne daß ich ihn gehört hatte. Ich starrte 
  das Bild mit ebenso großer Faszination wie Aversion an. Die beiden jungen 
  Männer standen in ihren schwarzen Uniformen und mit den schief sitzenden 
  Schiffchen nebeneinander und trugen ein breites Lächeln auf den Lippen. 
  Mein Vater hielt eine Maschinenpistole auf Hüfthöhe wie ein Großwildjäger, 
  der ein wildes Tier erlegt hatte. Aber hinter den beiden Männern lag ein 
  Haufen Leichen in Reih und Glied wie ausgestellt nach einer Jagd.
 »Das waren russische Partisanen. Die hatten einen von uns getötet, 
  einen Dänen aus Himmerland, und ihm die Augen ausgestochen. Dann rückten 
  wir in das Dorf ein, und dann bereuten sie ihre Tat. Der Krieg ist eine Schweinerei, 
  das kann ich dir sagen.«
 Ich sagte nichts. Ich spürte zunehmende Übelkeit, je länger ich 
  mir das Foto mit meinem Vater ansah. Obwohl ich ihn eigentlich nicht gekannt 
  habe, hatte ich ja seine Gene in mir. Und obwohl ich nicht der Meinung bin, 
  daß die Sünden der Väter an die Söhne vererbt werden, war 
  es doch allerhand, mit der Tatsache konfrontiert zu werden, daß der eigene 
  Vater an Kriegsverbrechen an der Ostfront teilgenommen hatte.
 »Dann mußt du ja fast achtzig sein«, sagte ich tumb.
 »Achtundsiebzig«, sagte er. »Es sind nicht mehr viele übrig, 
  und die meisten sitzen als senile Greise im Pflegeheim, aber mir hat Gott eine 
  kräftige Gesundheit geschenkt.«
 »Und wer ist Karl Henrik? Er kann unmöglich dein Sohn sein.«
 »Er ist mein Neffe. Er ist der Vereinssekretär, aber davon können 
  wir dir später noch erzählen. Das hier drüben ist sein Großvater, 
  komm …« Er zeigte in eine Ecke des Raums, ließ aber meinen 
  Arm wieder los, als er meinen Gesichtsausdruck sah. Neben zwei Wehrpässen 
  mit Hakenkreuz waren einige Fotos ausgestellt. Eines zeigte einen Mann, der 
  eine gewisse Ähnlichkeit mit Karl Viggo Jensen hatte. Er saß mit 
  einer Pfeife im Mund und einem Gewehr auf den Knien auf einem Panzerwagen.
 »Das ist Hans Peter. Das Bild wurde nicht weit von Zagreb in Jugoslawien 
  aufgenommen, wo das Regiment Nordland 1943 war. Hans Peter kam nicht mehr nach 
  Hause. Er fiel 1944 bei Narva. Dort liegt er begraben. Wir fanden vor ein paar 
  Jahren seine Überreste und gaben ihm ein christliches Begräbnis. Die 
  Esten haben größeres Verständnis für unseren Einsatz gegen 
  die Roten, als man es hierzulande hat. Und schau dir mal das andere Bild an.«
 Auch darauf war mein Vater zu sehen. Er hatte einen nackten Oberkörper 
  und seifte sich anscheinend gerade ein, bevor er sich unter einer provisorischen 
  Dusche abspülen wollte, die in einem Baum aufgehängt war. Er sah dünn, 
  aber doch kräftig aus. Am Bildrand stand eine junge Frau und hielt die 
  Hände vor die untere Gesichtshälfte, aber man konnte sehen, daß 
  sie sich vor Lachen über die Späße, die der dänische SS-Mann 
  auf Lager hatte, gar nicht mehr einkriegte.
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