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        PROLOG
        
        April 1943
        Uccle
        
        Er haßte Simone. Er fühlte den Haß wie ein schwarzes, ätzendes 
  Gift im Blutkreislauf durch seinen Körper strömen, 
  als er sie am offenen Fenster sitzen sah, wie gewöhnlich 
  über ihr grünes Notizbuch gebeugt, so daß die blonden 
  Haare das Gesicht wie eine seidenweiche Gardine verbargen. 
  Nein, so sollte er nicht denken. Er sollte nicht daran 
  denken, daß ihre Haare dufteten oder daß das zu klein gewordene 
  Kleid über ihrer Brust spannte, oder daß sie immer 
  Tintenflecke an ihren starken kleinen Händen hatte. Er 
  sollte daran denken, wie sehr er sie haßte.
  Sie blickte auf und sah ihn auf der Straße stehen. Zu seinem 
  Erstaunen winkte sie ihm zu und lächelte, als wäre 
  nichts passiert, lächelte dieses Lächeln, das das Lachgrübchen 
  an ihrer linken Wange so deutlich hervorlockte, daß 
  man Lust bekam, es mit dem kleinen Finger zu befühlen. 
  Genauso, als wäre nichts passiert. Genauso, als begreife sie 
  nicht, daß er sie jetzt haßte.
  Sie wußte nicht, was sie weggeworfen hatte. Sie wäre seine 
  Jenny geworden, aber jetzt dachte er statt dessen nur daran, 
  daß er ihr schaden wollte und daß er das tun konnte, 
  wenn er Lust hatte. Er wußte, was sie und Renée trieben. 
  Einmal in der Straßenbahn hatte er gesehen, wie sich Renée 
  neben einen deutschen Offizier setzte und heimlich seine 
  Aktentasche austauschte. Und als er in Simones grünem Notizbuch 
  blätterte, um zu sehen, ob sie etwas über ihn hineinschrieb, 
  hatte er gesehen, daß sie notierte, wer ihren Vater 
  besuchte. Mitten zwischen den mathematischen Problemen, 
  mit denen sie sich aus einem unerfindlichen Grund 
  ständig beschäftigte, hatte sie genau Namen, Daten und 
  Zeiten notiert. Sie mußte jemandem darüber Bericht erstatten.
  
  Wenn er sie anzeigte – er hatte sich noch nicht entschieden, 
  es zu tun, es war nur eine denkbare Möglichkeit, die 
  ihn durch ein angenehmes Machtgefühl von innen zum 
  Glühen brachte –, würde sie sicher von der Gestapo verhört 
  werden. Der Gedanke daran, was die Gestapo mit Simone 
  anstellen würde, ließ es in seinen Leisten heiß werden, und 
  er spürte, daß er da unten hart wurde, ein verbotenes Gefühl, 
  das mit Strafe und Schmutz, mit dem Stock seines Vaters 
  und dem Keller, in den er eingesperrt wurde, als er klein 
  war, zusammenhing. Es war Simones Schuld, daß er so empfand, 
  und sie mußte dafür bestraft werden. Wenn er erzählte, 
  was er wußte, würden die Deutschen sie bestrafen, obwohl 
  in Wirklichkeit er es tun würde. Vielleicht würde sie 
  sterben.
  Sein Vater verabscheute Simones ganze Familie und sah 
  seine Freundschaft mit ihr als einen weiteren Beweis dafür, 
  was für ein wertloser Taugenichts er war. Simones Vater 
  war einer der Gerichtsbeamten, die sich im Vorjahr geweigert 
  hatten, den Verkauf des jüdischen Eigentums durchzuführen, 
  worüber sich sein eigener Vater mit seinen Gästen 
  stundenlang verbreitet hatte. Sie kamen wie gewöhnlich zu 
  dem Ergebnis, daß der Verfall von Ordnung und Moral angefangen 
  hatte, als die Arbeiter nach dem vorigen Krieg das 
  Wahlrecht bekamen. Er hatte es ziemlich satt, das zu hören, 
  aber vielleicht hatten sie recht. Er wußte nicht mehr, was er 
  davon hielt. In seinem Universum war der Vater bis jetzt 
  der verhaßte Tyrann und Simone die erlösende Lichtgestalt 
  gewesen, aber in dieser neuen Welt, die entstanden war, 
  nachdem er sich entschieden hatte, Simone zu hassen, würde 
  sein Vater vielleicht einen anderen Platz einnehmen. Er 
  stellte sich vor, wie er dem Vater von Simone und Renée 
  erzählen und wie der Vater ihn endlich mit Stolz und Anerkennung 
  betrachten würde.
  – Ich wußte es, mein Sohn, würde er sagen, ich wußte, 
  daß du schließlich den richtigen Weg wählen würdest. Jetzt 
  hast du gezeigt, daß du ein Mann und ein wahrer Patriot 
  bist. 
  Dann würden sie zusammen losgehen und Simone und 
  ihren Anhang anzeigen. Er würde ab und zu eine herbe 
  männliche Trauer über ihr Schicksal empfinden bei dem 
  Gedanken, was sie ihm früher einmal bedeutet hatte, aber 
  er würde es als ein notwendiges Opfer sehen, ein Opfer, wie 
  man es manchmal bringen muß. Die Hitze in seinen Leisten 
  und die Steifheit da unten versuchte er wegzudrängen, 
  sie störten die edlen Bilder, die er in seinem Inneren hervorzurufen 
  versuchte. Aber die verbotenen Gefühle waren zu 
  aufdringlich geworden, um verdrängt zu werden. Wenn 
  sein Vater nicht zu Hause war, würde er sich vielleicht trauen, 
  in den Keller zu gehen und zu tun, was man mit sich 
  selbst nicht tun durfte. Dabei würde er an Simone bei der 
  Gestapo denken.
  Er sah zum Fenster hinauf. Jetzt stand auch Renée da, die 
  dunklen Haare wie eine Wolke um das Gesicht. Renée bedeutete 
  ihm überhaupt nichts. Sie war nur ein Anhängsel 
  von Simone, und in seiner neuen Simone-losen Welt existierte 
  sie nicht einmal als ein Staubkorn. Aber sie lächelten 
  ihm beide zu, und Simone winkte ihm, er solle hereinkommen. 
  Er öffnete die Gittertür, ging die wohlbekannten 
  Schritte den Gartenweg hinauf.
  Er hatte sich noch nicht entschieden. Noch nicht.
  
  
KAPITEL 1
  
  Samstag, 11. Juni 1994
  Brüssel
  
  Denise van Espen ging mit schnellen Schritten die Rue des 
  Minimes entlang. Sie war wütend, so wütend, daß sie wie 
  eine Furie vorwärtsmarschierte, ohne sich von ihrem engen 
  Rock und ihren hohen Absätzen aufhalten zu lassen. Sie 
  mußte sich beruhigen, dachte sie. Eric Janssens war einer 
  ihrer besten Kunden. Sie konnte nicht zu einem ihrer besten 
  Kunden nach Hause kommen und ihn beschimpfen. 
  Aber warum mußte er sie ausgerechnet heute im Stich lassen? 
  Max, ihr Mann, hätte schon zur heutigen Auktion in 
  Gent unterwegs sein müssen, um Geschäfte mit dem Geld 
  zu machen, das Eric Janssens für das Fernand-Toussain- 
  Gemälde, 
  zu dessen Kauf er sich nach langem Zögern entschlossen 
  hatte, bezahlen sollte. Um zehn Uhr hätte er zu 
  Max’ und Denise’ Antiquitätenhandel kommen sollen, um 
  das Geschäft abzuschließen. Und dann tauchte er nicht auf! 
  Die Morgensonne stand schon über den Hausdächern. Es 
  schien ein schöner Junitag zu werden. Sie hatte die Viertel 
  mit niedrigen Häusern und kleinen Läden hinter sich gelassen, 
  und die Straße begann anzusteigen. Links von ihr erhob 
  sich der schwere Klotz des Justizpalastes mit seinen 
  Säulen und Steinlöwen, düster unheilverkündend wie eine 
  Spukburg in einem Horrorfilm. Eine Schar Tauben flog so 
  nahe bei Denise auf, daß sie beinah ihre Haare berührten. 
  Sie war sehr oft bei Eric Janssens zu Hause gewesen. Er 
  wohnte allein ganz oben in einem Haus in der Rue Jean 
  Jacob 
  in der Nähe des Justizpalastes mit einer hinreißenden 
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  Aussicht über Brüssel von der Dachterrasse aus und einer 
  noch hinreißenderen Sammlung Kunst und Antiquitäten in 
  der Wohnung.
  
                  
                  
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Am Haus angekommen, tippte sie den Türcode ein und 
  nahm den Lift in den fünften Stock. Sie strich sich über die 
  Haare und zählte bis hundert, während sie versuchte, ruhiger 
  zu atmen, bevor sie an der Tür klingelte.
  Sie hörte das Signal in der Wohnung, aber niemand kam, 
  um aufzumachen. Sie klingelte wieder und schielte zum 
  Guckloch in der Tür. Nichts passierte.
  Wenn Eric Janssens nun einen Herzanfall gehabt hatte 
  und hilflos da drinnen lag! Der Gedanke kam ihr zum ersten 
  Mal. Es hatte ihm ja tatsächlich viel an diesem Gemälde 
  gelegen, als er sich erst einmal entschlossen hatte.
  Nicht daß Eric Janssens wie ein potentieller Herzpatient 
  ausgesehen hätte. Er war neunundfünfzig, schlank und 
  durchtrainiert. Aber, dachte Denise, er war in der letzten 
  Zeit etwas verändert gewesen, etwas … seltsam? Sie hatte 
  es erst vor zwei Wochen bemerkt, nachdem er angerufen 
  und sie gebeten hatte, sich um ein paar Koffer mit alter 
  Kleidung zu kümmern, die er aus seinen Beständen aussortieren 
  wollte. Er hatte eifrig gewirkt, nahezu exaltiert.
  Sie nahm den Lift zurück ins Erdgeschoß und klingelte 
  bei Maria Cunhal, eine Rentnerin, die in der alten Conciergewohnung 
  des Hauses wohnte und ihre Rente aufbesserte, 
  indem sie bei einigen der Mieter putzte. Sie half gewöhnlich 
  bei Eric Janssens mit, wenn er Einladungen hatte, 
  und da hatte Denise sie kennengelernt.
  Maria Cunhal öffnete sofort. Sie erkannte Denise und bat 
  sie in die Küche, wo die Morgenzeitung aufgeschlagen neben 
  einer Tasse Kaffee und einem Korb mit Brot lag. Denise 
  erklärte, daß Rechtsanwalt Janssens zu einem verabredeten 
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  Treffen nicht gekommen sei und daß sie anfange, sich seinetwegen 
  Sorgen zu machen.
  Maria Cunhal sah sie, durch ihre goldgefaßte Lesebrille 
  blinzelnd, bekümmert an. 
  – Das klingt nicht gut, sagte sie, gestern hat der Herr 
  Rechtsanwalt auch ein Treffen verpaßt, das er verabredet 
  hatte. Da kam auch gestern jemand her und klingelte, ein 
  fescher junger Mann …
  Sie bekam einen verträumten Blick. Denise lächelte innerlich. 
  Sie fragte sich, ob sich die Portugiesin bewußt war, 
  warum so viele schöne junge Männer Eric Janssens Wohnung 
  aufsuchten.
  – Nein, keiner von denen, sagte Maria Cunhal und sah 
  Denise streng an, als habe sie ihre Gedanken gelesen, era 
  sério, dieser Mann, er hatte ein ernstes Anliegen. Und er 
  war nicht so jung, eher wie Sie, Madame. Er wollte heute 
  wiederkommen, ich habe versprochen, es dem Herrn 
  Rechtsanwalt zu sagen. Aber ich habe ja Monsieur Janssens 
  nicht gesehen, nicht seit Donnerstag abend. Das ist sehr 
  merkwürdig.
  Die beiden Frauen sahen einander an. 
  – Es ist wohl das beste, wenn wir bei ihm reinschauen, 
  sagte Denise. Sie haben doch Schlüssel, Madame Cunhal? 
  Maria Cunhal nahm schon den Schlüsselbund von einem 
  Brett im Küchenschrank.
  Das erste, was ihnen auffiel, war der Gestank.
  
  
Danke an die Suhrkamp Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.