| ERSTER TEIL Leseprobe
Erst danach, zurückgekehrt auf den Hof, wagte es Erling Fall schließlich, 
        genauer an das zu denken, was ihn so weit gebracht hatte, daß es 
        am Ende des Jahrhunderts an einem dunklen Winterabend in Paris zu diesem 
        Verhängnis gekommen war. Erregt von dem eben Gedachten, mußte 
        er sich fragen, wo sie begann, diese Serie von Ereignissen, die schließlich 
        dazu geführt hatte, daß er den Halt in seinem eigenen Leben 
        verlor, diesem Leben, das er stets als anständiger Mensch, wie man 
        so sagt, hatte leben und vollenden wollen, in den normalen, vorgegebenen 
        Bahnen; das er aber offenbar in jämmerlicher Trägheit und Phantasielosigkeit 
        und in dumpfem Ehrgeiz gelebt hatte. Er war immer von dem starken Wunsch beseelt gewesen, sich einzuordnen, 
        das System zu akzeptieren, alles das, was sich die Menschen an Regeln, 
        Ordnungen und Vorschriften ausgedacht hatten, all das, was man oft und 
        zugleich unbegreiflicherweise eine Gesellschaft nannte. Er hatte nie, 
        und vielleicht war das der Grund, warum er Amtsrichter geworden war, mit 
        dem Gesetz in Konflikt geraten wollen. Vielmehr hatte er in all diesen 
        Jahren seines sogenannten erwachsenen Lebens Alpträume wegen all 
        der Verbrechen gehabt, die zu begehen sicher auch er fähig war, und 
        wegen all der Verbrecher, die er hatte verurteilen müssen, weil sie 
        nicht imstande gewesen waren, ihr Lebenswerk zu vollenden, ohne gewisse 
        ungeheuerliche Fehltritte zu begehen; Fehltritte, die von der Gesellschaft, 
        und auch von ihm, wie man es von ihm verlangte, als so schwerwiegend betrachtet 
        wurden, daß er diese Menschen ihrer Freiheit berauben und sie in 
        extremen Fällen zu langen, fast unmenschlich langen Gefängnisstrafen 
        verurteilen mußte.Ja, dachte Erling Fall, als er wieder daheim auf der Veranda seines Hofes 
        stand, es muß an dem Tag begonnen haben, einem Oktobertag wie diesem, 
        als er, bereits krankgemeldet, mit den Scheidungspapieren in der Hand 
        von genau dieser Veranda aus sah, daß Gunnar Hov auf dem Getreidefeld 
        stand, fast ganz unten beim Friedhof, und zum Wohnhaus heraufstarrte, 
        als wüßte er, welchen Brief Erling Fall bekommen hatte. Es 
        herrschte ein grelles und unbarmherziges Licht an diesem Tag, Windstille, 
        der See lag spiegelglatt; eine intensive und greifbare Stille, als hätte 
        sich gerade etwas Böses ereignet oder als sollte es sich ereignen. 
        Erling Fall hatte lange angenommen, daß Gunnar Hov, Jäger von 
        Geburt an, mit einem schärferen Gehör, einem aufmerksameren 
        Blick, der Natur näher stünde als er selbst.
 Ja, Gunnar Hov, der Pächter, war ein Mann mit fast unheimlicher Intuition, 
        der bei jeder Art von Jagd wußte, wann der richtige Zeitpunkt gekommen 
        war, so, wie er viele Jahre auf Merete Bøver gewartet haben mußte, 
        wenn auch erfolglos. »Doch, woher will ich das wissen«, hörte sich 
        Erling Fall laut ins Zimmer sagen, auch wenn er allein im Haus war. »Woher 
        will ich das wissen?« wiederholte er, mit der hohlen Stimme, an die er 
        sich seit dem Stimmbruch nie hatte gewöhnen können. Merete Bøver, 
        die Frau, von der er nun geschieden war, hatte ihm ja die Wahrheit erst 
        gesagt, als es zu spät war.
 
 Aber jetzt war der alles beendende Brief gekommen, und dort stand Gunnar 
        Hov, fast unten bei der Kirche, und starrte, glotzte, wartete, mitten 
        im grellen Oktoberlicht, in dieser ohrenbetäubenden Stille, in der 
        nichts geschah, denn auch Erling Fall stand reglos mitdem Brief in der 
        Hand und wußte, daß er von nun an ein geschiedener Mann war, 
        ein gedemütigter Mann, verlassen von seiner Frau; ein Mann, der in 
        den Augen der anderen seine Würde verloren hatte, der es nicht geschafft 
        hatte, die Frau zu halten, die er überdies viele Jahre versorgt hatte; 
        eine Frau, die mit ihren zwei Kindern vom ersten Augenblick an mit Ansprüchen 
        zu ihm gekommen war, die ihm zu verstehen gegeben hatte, daß er 
        Merete Bøver zwar bekommen konnte, sie aber ihren Preis hatte.
 Gunnar Hov senkte endlich den Kopf und ging zum Traktor. Erling Fall stand 
        unschlüssig mit den Scheidungspapieren in der Hand, und er merkte 
        auf einmal, daß die Verzweiflung und das Gefühl des Verlusts 
        mit einer Geschwindigkeit zunahmen, als hätte er bereits mehrere 
        Gläser Whisky getrunken, es war eine so gewaltsame und alles überschattende 
        Wehmut, daß er das Läuten der Türglocke nicht sofort hörte. 
        Wahrscheinlich hatte es schon einige Male geläutet, bis er fähig 
        war, die Flut von Gedanken über das unwiderruflich Geschehene zu 
        unterbrechen. Mit dem Brief in der Hand, den er weder weglegen konnte 
        noch wollte, ging er durch die weitläufigen Räume in den Flur. 
        Es wunderte ihn, daß jemand zu diesem Zeitpunkt Kontakt mit ihm 
        aufnehmen wollte.
 
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Er war zu einem isolierten Menschen geworden, mit offensichtlich schwermütiger 
          und trister Ausstrahlung. Es war lange her, daß Gunnar Hov heraufgekommen 
          war. Man hielt Abstand von ihm, wie es hieß, und Erling Fall verstand 
          ohne weiteres, daß man ihn gerade jetzt natürlich mied. Er 
          öffnete die große, massive Haustür und sah zu seiner Überraschung, 
          daß es Oddleif Jaren, der Lensmann von Lunner, war, der vor ihm 
          stand, etwas schwer und übergewichtig und gewissermaßen fertig 
          zur Elchjagd ...Danke an den Insel-Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |