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Winter konnte die Blaulichter von weitem sehen, als er den Hügel 
        Richtung Delsjömotet hinauffuhr.Ihr Schein schien östlich von ihm in der Luft zu rotieren. Fehlt 
        nur noch ein Hubschrauber, dachte er. Ein junger Polizist in Uniform wartete 
        mit blassem Gesicht an der Absperrung. Winter zeigte seinen Ausweis vor. 
        Ein leiser Wind kam von Süden herauf. Der Tag war nah.
 »Warst du als Erster hier?«
 »Ja. Als der Notruf eingegangen ist, sind wir sofort losgefahren.«
 »Der Anrufer. Ist er hier?«
 »Er sitzt dort drüben.«
 Mit einem Nicken wies der junge Streifenpolizist ins Dunkel. Im Licht 
        der Morgendämmerung erkannte Winter die Silhouette eines Kopfes vor 
        der helleren Fläche des Morgenhimmels. Winter war mit einem Mal kalt. 
        Die Reaktion seines Körpers auf die Erkenntnis, warum er hier war 
        und was noch vor ihm lag. Er verspürte große Lust, sich einen 
        Zigarillo anzuzünden, ließ es aber bleiben. Er brauchte dringend 
        eine Tasse Kaffee. Wieder spürte er den Wind, der über die Haare 
        an seinen Oberschenkeln strich. Er trug Shorts, das Hemd hing locker darüber.
 »Wo kann ich langgehen?«
 »Bitte?«
 »Wo beginnt der gesicherte Pfad?«
 Der junge Polizist verstand offenbar nicht. Winter sah sich um. Die meisten 
        Aktivitäten konzentrierten sich auf eine Stelle in fünfzig Meter 
        Entfernung, vielleicht siebzig. Es war schwierig, da noch etwas zu erkennen. 
        Er winkte, und drüben entdeckte ihn einer. Der Mann löste sich 
        aus der Gruppe und kam auf Winter zu.
 »Ich bin auch gerade erst eingetroffen«, sagte Kriminalkommissar Göran 
        Beier. »Sie liegt dort drüben.«
 Winter folgte ihm. Sie gingen geradeaus über den Parkplatz, zwischen 
        zwei Autos hindurch, wandten sich nach links und vorsichtig weiter auf 
        dem breiten Pfad zu einem breiten Graben, der von einer Kiefer und mehreren 
        Birken teilweise verdeckt war. Der Pfad. Die Techniker hatten einen sicheren 
        Weg markiert, an den sich alle halten sollten. Winter hörte ein Auto 
        und blickte sich um. Ein paar Autoscheinwerfer, die nur wenig ausrichteten, 
        nun, da der Himmel langsam hell wurde. Es war Ringmars Wagen. Ringmar 
        stieg aus. Er würde den Zeugen vernehmen. Winter wandte sich wieder 
        dem Graben zu. Unten lag eine Frau auf dem Rücken hinter der Kiefer. 
        Er trat näher heran, damit er ihr Gesicht deutlicher sehen konnte. 
        Sie konnte fünfundzwanzig oder dreißig oder sogar fünfunddreißig 
        Jahre alt sein.
 Ihr Haar wirkte hell, aber das war schwer zu entscheiden, da es feucht 
        war vom Morgentau. Sie trug einen kurzen Rock, eine Bluse und eine Strickjacke. 
        Ihre Kleider schienen nicht in Unordnung zu sein. Sie starrte zu dem fahlen 
        Himmel empor. Winter beugte sich näher über sie und glaubte, 
        die kleinen roten Pünktchen an ihren Ohren und die kleinen geplatzten 
        Äderchen in ihren offenen Augen zu erkennen. Sie war erwürgt 
        worden, vermutete er. Aber er war kein Fachmann. Das Licht der Dämmerung 
        reichte aus, um zu sehen, dass ihr Gesicht verfärbt und geschwollen 
        war. Die Zähne lagen frei, als hätte sie gerade etwas sagen 
        wollen. Die Techniker von der Spurensicherung hatten sofort die Gerichtsmedizinerin 
        zum Fundort gerufen. Winter nickte Pia Erikson Fröberg zu. Sie stand 
        unten im Graben und las ihr Fieberthermometer ab. Es sah aus, als wartete 
        die Tote auf das Ergebnis. Winter konnte die Augen nicht von der toten 
        Frau abwenden.Sie schien den Blick vom Himmel abgewandt und auf Pias routinierte Bewegungen 
        gerichtet zu haben. Sie ist in guten Händen, dachte Winter. Ihr Körper 
        ist in guten Händen. Nach zwei Stunden waren die Einsatzkräfte 
        mit der vorläufigen Arbeit fertig. Es war noch früh am Morgen. 
        Die Leute von der Spurensicherung bedeckten den ganzen Körper der 
        Toten mit einer durchsichtigen Klebefolie und warteten auf den Leichenwagen. 
        Als das Auto ankam, legten sie den Körper in einem Plastiksack auf 
        die Bahre und transportierten ihn in die Pathologie des Östra-Krankenhauses. 
        Bald würde das neue Gebäude der gerichtsmedizinischen Abteilung 
        auf dem Medicinarberg fertig sein, aber vorerst war noch das Östra 
        zuständig, wenn Verdacht auf ein Verbrechen bestand. Die Frauenleiche 
        lag nun auf einem rostfreien Tisch. Die Lampen ersetzten das Morgenlicht, 
        das Winter geblendet hatte, während er hinter dem Leichenwagen hergefahren 
        war. Hier drinnen schien der Tod endgültig besiegelt. Im hellen Kunstlicht 
        war es, als stürbe die Frau einen zweiten Tod. In dem verdammten 
        Graben draußen, dachte Winter, gab es sie noch, aber jetzt ist es 
        endgültig vorbei. Das Gesicht der Toten schien obszön zu leuchten, 
        und die Haut war gespannt, schimmerte durchsichtig. Als der Körper 
        nackt war, begann Pia Erikson mit der Obduktion, zunächst mit der 
        äußeren Besichtigung, während die Assistenten die Leiche 
        aus jedem erdenklichen Winkel fotografierten.
 Pia Erikson beschrieb laut alle sichtbaren Verletzungen.
 Auch sie sprach in ein Diktiergerät. Winter hörte, wie sie die 
        Verletzungen aufzählte, die er selbst an den Unterarmen der Leiche 
        bemerkt hatte und die wahrscheinlich von Gegenwehr herrührten. Er 
        konnte die Punkteinblutungen sehen, die entstanden waren, als der Blutdruck 
        gestiegen war, weil die Gefäße vom Kopf abgeschnürt wurden 
        und als das Zungenbein gebrochen und sie zu Tode gewürgt worden war 
        - wenn das tatsächlich die Todesursache war. Pia sprach von Würgemalen 
        an der Kehle. Sie hatten sie vorher nicht sehen können, weil die 
        Frau ein Polohemd getragen hatte. Nun fanden sich an ihrem Hals deutlich 
        blaue Flecken. Dazu hatte sie weiße Flecken auf Bauch und Brust 
        und an der Vorderseite der Oberschenkel. Sie hatte auf dem Rücken 
        gelegen, als sie aufgefunden worden war. Das bedeutete, man hatte sie 
        erst an den Fundort gebracht, als sie schon tot war.
 Winter konnte also ausschließen, dass sie Selbstmord begangen hatte 
        und hinterher von jemand anders weggebracht worden war. Oder konnte es 
        trotzdem so gewesen sein? Winter antwortete nicht. Er schaute sich noch 
        einmal das Gesicht der Toten an und versuchte, es sich in Bewegung vorzustellen, 
        als noch alle Nerven und Muskeln unter der Oberfläche funktionierten, 
        alles, was für ein Lächeln, eine Grimasse erforderlich war.
 »Wie alt ist sie?«, fragte er. »Ungefähr dreißig, würde 
        ich jetzt sagen. Aber du musst dich noch gedulden. Sie kann auch älter 
        oder jünger sein, einige Jahre mehr oder weniger. Die Haut ist recht 
        zart. Glatt um den Mund und an den Augen.«
 »Keine Lachfalten?«
 »Vielleicht hatte sie nicht so viel, worüber sie sich freuen konnte«, 
        sagte Pia Erikson Fröberg, und Winter grübelte kurz, warum sie 
        wohl so eine Bemerkung fallen ließ. »Aber nun ist Schluss mit der 
        Traurigkeit. Bleibst du da, wenn ich mit der medizinischen Untersuchung 
        beginne?«, fuhr Pia Erikson fort. »Ich bleibe noch ein wenig«, sagte Winter. 
        »Ich hab noch etwas für dich«, sagte Pia Erikson. »Damit du mehr 
        zum Denken hast. Die Frau hat Kinder geboren.« »Sie hat Kinder?«, wiederholte 
        Winter. »Ich weiß nicht, wie es jetzt steht, aber sie hat Kinder 
        geboren. Eins, vielleicht mehrere.« »Wann denn?« »Das kann ich nicht beantworten, 
        wenigstens jetzt noch nicht. Aber es zeigt sich an ihren ...« »Erspar 
        mir lieber die Details«, bremste Winter sie, »jedenfalls für den 
        Augenblick.« Er spürte einen Schauder über seine Kopfhaut laufen. 
        Es gab vielleicht ein kleines Kind da draußen.
 Das konnte eine Hilfe bei der Fahndungsarbeit bedeuten - oder Anlass zu 
        Frustration. Vielleicht Schlimmeres. * Mama ließ den Wagen an, und 
        sie fuhren los. »Fahren wir jetzt heim?« »Bald«, sagte Mama. »Wir müssen 
        nur vorher noch etwas erledigen.« »Ich möchte aber heim.« »Wir fahren 
        ja nach Hause. Aber wir müssen erst noch was anderes erledigen«, 
        sagte Mama, dann hielt sie den Wagen wieder an, stieg aus und setzte sich 
        neben sie auf den Rücksitz. Mamas Gesicht war nass.
 »Bist du traurig, Mama?«
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   »Nein. Das ist vom Regen. Hör mir jetzt gut zu. Wir fahren erst zu 
          einem anderen Haus und holen ein paar Onkel ab. Hörst du, was ich 
          sage?«Danke an den Claassen Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.»Wir holen ein paar Onkel ab.«
 »Ja. Die Onkel werden angerannt kommen, wenn sie uns sehen, das ist nämlich 
          ein Spiel. Sie springen ins Auto, wenn es noch gar nicht richtig gehalten 
          hat. Verstehst du?«
 »Die springen ins Auto?«
 »Wir fahren langsamer, sie springen ins Auto, und wir fahren wieder los.«
 »Fahren wir dann heim?«
 »Etwas später, ja.«
 »Ich will aber jetzt heimfahren.«
 »Das machen wir auch bald. Aber vorher spielen wir noch dieses kleine 
          Spiel.«
 »Können wir nicht morgen spielen, wenn es heller ist? Ich bin müde. 
          Das ist ein doofes Spiel.«
 »Es muss aber sein. Wichtig ist vor allem, dass du dich auf den Boden 
          legst. Das gehört zum Spiel. Du musst dich auf den Boden legen, wenn 
          ich es sage. Verstehst du?« Sie nickte. »Probier es mal aus.« »Aber du 
          hast gesagt, dass ...« »Leg dich hin!« Mama fasste sie hart an. Es tat 
          weh im Nacken. Sie legte sich auf den Boden, der schlecht roch und kalt 
          und nass war. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie hustete und lag auf dem kalten 
          Boden. Der Arm tat ihr weh. Mama ging zurück zum Vordersitz und ließ 
          den Motor an. Da richtete sie sich wieder auf und blieb sitzen, bis Mama 
          sagte, dass sie sich auf den Boden legen sollte. »Geht es jetzt los?«
 »Ja. Liegst du?«
 »Ich bin ganz unten.«
 »Du darfst dich nicht aufrichten«, befahl Mama. »Das kann sehr gefährlich 
          sein.« Und Mama sagte immer wieder, wie gefährlich es war. »Du musst 
          auch ganz still sein.« Sie fand gefährliche Spiele doof, aber sie 
          wagte es nicht zu sagen.
 »Still jetzt!«, befahl Mama in bösem Ton, obwohl sie gar nichts gesagt 
          hatte. Sie lag ruhig da und lauschte den Geräuschen unter sich. Es 
          war, als läge sie fast auf der Straße, rattatirattatiratt, 
          und sie dachte wieder, es klingt wie ein Lied, als das Auto die Fahrt 
          verlangsamte; rattatirattat... und plötzlich hörte sie einen 
          Schrei und noch einen, und Mama rief etwas. Die Tür über ihr 
          wurde aufgerissen.
 Etwas Schweres drückte sie nach unten, und sie wollte schreien, aber 
          es ging nicht. Vielleicht traute sie sich auch nicht. Die Türen flogen 
          auf und wurden zugeschlagen und wieder geöffnet und zugeschlagen, 
          und sie hörte, dass es knallte, als eine Tür vorn gegen das 
          Auto schlug, wie ein Feuerwerk klang es, und es war, als ob der Regen 
          jetzt viel härter auf das Auto trommelte. Sie schielte nach oben 
          und sah, dass das Glas im Fenster gesprungen war, aber es hielt dennoch 
          irgendwie.
 Es fiel kein Glas auf sie oder auf den Rücksitz.
 Alle schrien, doch sie verstand nicht, was die Stimmen sagten. Sie horchte, 
          konnte aber ihre Mama nicht hören. Sie wollte sich aufsetzen, aber 
          das ging nicht.
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