| 1987 Leseprobe
Sie wusste, dass sie nachts ins Bett pinkeln würde, 
          und sie wusste, dass Tante Peggy dann böse werden würde.Das war immer so. Immer, wenn sie bei Tante Peggy schlief und nicht 
          bei ihrer eigenen Mama, passierte es.
 Mami. Sie wollte bei Mami sein. In ihrem eigenen Bett in ihrem eigenen 
          Zimmer schlafen mit der Puppe Trudi unter der Decke und der Puppe Bamba 
          unter dem Kopfkissen. So sollte es sein; wenn es so war und wenn sie 
          mit Mamis gutem Geruch in der Nase einschlief, dann passierte es nie, 
          dass das Bett nass war, wenn sie aufwachte. Jedenfalls fast nie.
 Tante Peggy roch überhaupt nicht wie Mami. Sie wollte nicht, dass 
          Tante Peggy sie anfasste, und das tat sie glücklicherweise auch 
          nie. Aber sie schlief im gleichen Zimmer, auf der anderen Seite eines 
          blauen und ein bisschen roten Vorhangs mit irgendwelchen Drachen drauf, 
          vielleicht waren es auch Schlangen, und manchmal schlief da noch jemand. 
          Sie mochte das nicht.
 Trudi und Bamba mochten es auch nicht; bei Tante Peggy waren sie gezwungen, 
          beide unter dem Kopfkissen zu schlafen, damit sie kein Pipi abbekamen. 
          Das war unbequem und hart, aber sie konnte die Puppen natürlich 
          nicht zu Hause lassen, wie Mami es vorgeschlagen hatte. Manchmal kam 
          Mami wirklich auf die merkwürdigsten Ideen.
 Eine Woche, hatte sie beispielsweise gesagt. Du musst für eine 
          Woche zu Peggy, ich werde wegfahren und viel Geld verdienen. Wenn ich 
          zurückkomme, kriegst du ein neues Kleid und so viel Eis und Bonbons, 
          wie du willst.
 Eine Woche, das waren viele Tage. Sie wusste nicht genau, wie viele, 
          aber es waren mehr als drei, und die ganze Zeit würde sie gezwungen 
          sein, in diesem ekligen Zimmer zu schlafen, vor dessen Fenster Autos 
          und Busse auf der Straße entlang fuhren, hupten, bremsten und die ganze 
          Nacht mit den Reifen quietschten. Sie würde ins Bett pinkeln, und 
          Tante Peggy würde gar nicht auf die Idee kommen, das Bettzeug zu 
          wechseln, sondern es nur tagsüber zum Trocknen über den Stuhl 
          hängen, und Trudi und Bamba würden so traurig sein, oh, so 
          traurig, dass sie sie nicht würde trösten können, wie 
          sehr sie das auch versuchte.
 Ich will nicht bei dieser blöden Tante Peggy sein, dachte sie. 
          Ich wünschte, Tante Peggy wäre tot. Wenn ich Gott bitte, sie 
          wegzubringen und er das tut, dann verspreche ich nicht einen einzigen 
          Tropfen mehr ins Bett zu pinkeln, und wenn es dann Morgen ist, dann 
          kommt Mami statt Tante Peggy, nimmt mich mit nach Hause, und ich muss 
          nie wieder hierher zurück. Nie wieder.
 Hörst du, lieber Gott, lass Mami zurückkommen, nimm das Pipi 
          und Tante Peggy weg. Lass sie sterben oder setze sie in ein Flugzeug 
          und flieg mit ihr zum Land der Tausend Inseln.
 Sie faltete die Hände so fest, dass ihr die Finger wehtaten, und 
          Trudi und Bamba beteten zusammen mit ihr mit all ihrer Kraft, deshalb 
          würde es vielleicht, vielleicht ja doch so geschehen, wie sie es 
          sich wünschte.
 Auf dem Weg zu seiner Arbeit kaufte der Privatdetektiv 
          Maarten Verlangen am Dienstag, dem 3. Juni, sechs Bier und sechs Staubsaugerbeutel 
          ein. Ersteres war Routine, Zweiteres war außergewöhnlich. Seit Martha 
          sich vor fünf Jahren hatte von ihm scheiden lassen, waren seine 
          Putzambitionen nicht mehr so ausgeprägt gewesen wie jetzt, und 
          mit dem etwas fremden Gefühl eines guten Gewissens schloss er die 
          rostschutzfarbene Eisentür auf und nahm sein Büro in Beschlag.
 Das war schnell geschehen. Der Raum maß drei mal vier Meter, und kein 
          Architekt der Welt wäre auf die Idee gekommen, »Büroraum« 
          auf seine Zeichnung zu schreiben. Der Raum lag in einer der verrußten 
          alten Mietskasernen an der Armastenstraat, gleich neben den Eisenbahngleisen. 
          Vom Hauseingang ging es eine halbe Treppe nach unten; war offenbar anfangs 
          als eine Art von Lagerraum für den Hausmeister gedacht gewesen, 
          ein Platz, wo das eine oder andere, was die Mieter nicht mehr brauchten, 
          verwahrt werden konnte: Toilettenschüsseln, Duschschläuche, 
          Kochplatten und sonstige Utensilien der abgenutzten Sorte.
 Aber jetzt war es also ein Büro. Wenn auch kein besonders schickes. 
          Die Wände waren von Beginn an mit schmutzigem, erdfarbenem Putz 
          bedeckt, der Boden war vor zwei oder drei Jahrzehnten dunkelblau gestrichen 
          worden, und die einzige natürliche Lichtquelle war ein klein bemessenes 
          Fenster auf Bodenhöhe, ganz oben unter der Decke. Die Möblierung 
          war einfach und funktional. Ein Schreibtisch mit einem Schreibtischstuhl. 
          Ein grauer Aktenschrank aus Metall. Ein niedriges Bücherregal, 
          ein brummender Fünfzig-Liter-Kühlschrank, ein Wasserkocher 
          sowie ein abgewetzter Besuchersessel. An einer Wand hing ein Kalender 
          mit Reklame für eine Tankstelle, an einer anderen die Reproduktion 
          einer düsteren Piranesi-Lithographie. Die anderen beiden waren 
          leer.
 Abgesehen von dem Kalender, den Verlangen mit schlafwandlerischer Sicherheit 
          jedes Jahr Ende Januar oder Anfang Februar austauschte, sah das Büro 
          haargenau so aus wie in den letzten vier Jahren. Seit er eingezogen 
          war. Man sollte nicht unterschätzen, wie sehr es die Umgebung vermag, 
          dem Leben Sicherheit und Stabilität zu geben, pflegte er gern zu 
          denken. Man sollte nicht den Staub der Jahre verachten, der sich auf 
          unsere Schultern legt.
 Er schaltete die Deckenlampe ein, weil die Schreibtischlampe kaputt 
          war. Hängte seine dünne Windjacke an einen Haken an der Türinnenseite 
          und stellte das Bier in den Kühlschrank.
 Ließ sich sodann auf dem Schreibtischstuhl nieder und legte die Staubsaugerbeutel 
          in die rechte, oberste Schublade. Er wollte sie nicht hier im Büro 
          benutzen. Ganz und gar nicht. Den Staubsauger der Marke Melfi, den er 
          besaß - eines der wenigen Dinge, die er nach der Scheidung mitbekommen 
          hatte, möglicherweise, weil er bereits zur Zeit seiner Ehe so schlecht 
          funktioniert hatte -, verwahrte er in seiner Wohnung in der Heerbanerstraat. 
          Und dort wollte er sie benutzen. Womit die Grenze erreicht war. Er überlegte 
          einen Moment, ob er die Tüten nicht doch lieber auf dem Schreibtisch 
          platzieren sollte; das Risiko, dass sie nach Ende des Arbeitstages in 
          der Schublade zurückbleiben würden, war zweifellos vorhanden, 
          aber er entschloss sich, es zu riskieren. Staubsaugertüten passten 
          nun mal nicht gerade zu dem Inventar, das ein Besucher in einem renommierten 
          Detektivbüro vorzufinden erwartete.
 Verlangens Detektivbüro. So stand es auf dem einfachen, aber stilvollen 
          Schild draußen an der Tür. Er hatte es selbst eingraviert, es hatte 
          ihn einen Vormittag gekostet, aber das Ergebnis sah gar nicht so schlecht 
          aus.
 Er schaute auf seinen Terminkalender. Da gab es eine Notiz wegen eines 
          Termins mit der Versicherungsgesellschaft am Nachmittag. Ansonsten war 
          er leer. Er kontrollierte den Anrufbeantworter, ob er irgendwelche aufgezeichneten 
          Mitteilungen enthielt. Nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete 
          es und zündete sich eine Zigarette an.
 Schaute auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach zehn.
 Wenn ich keinen Kunden vor zwölf Uhr kriege, dann esse ich schnell 
          was im Oldener Maas, und anschließend gebe ich mir die Kugel, dachte 
          er und lächelte verbissen vor sich hin.
 Das war ein Zwangsgedanke, der ihm jeden Morgen in den Sinn kam, und 
          eines Tages würde er ihn in die Tat umsetzen. Er war siebenundvierzig 
          Jahre alt, und die Menschen, die ihn vielleicht vermissen könnten, 
          waren an dem Daumen einer Hand abzulesen.
 Sie hieß Belle und war seine Tochter. Siebzehn, fast achtzehn. Er betrachtete 
          eine Zeit lang ihr lachendes Gesicht auf dem Foto neben dem Telefon 
          und trank noch einen Schluck Bier. Zwinkerte die Tränen fort, die 
          der bittere Geschmack hochkommen ließ, und rülpste.
 Wie hat so ein Schwein wie ich nur so eine Tochter kriegen können?, 
          überlegte er.
 Auch das war ein immer wieder auftauchender Gedanke. Überhaupt 
          gab es viele Wiederholungen in Maarten Verlangens Gehirn. In erster 
          Linie alte, trübe Fragen ohne Antwort. In klaren Stunden kam es 
          vor, dass diese Tatsache ihn erschreckte.
 Aber es gab ein Gegenmittel gegen klarsichtige Ängste. Zum Glück. 
          Er trank noch einen Schluck und nahm einen tiefen Zug von der Zigarette. 
          Stand auf und stellte das Fenster auf Kipp. Setzte sich wieder.
 Inzwischen war es dreizehn Minuten nach zehn geworden.
 Sie rief kurz vor elf Uhr an und tauchte eine halbe Stunde später 
          auf.
 Eine ziemlich große Frau um die Fünfunddreißig. Braunrotes, schulterlanges 
          Haar. Schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und klar gezeichneten 
          Zügen. Schlank und sportlich, aber dennoch mit einer sich deutlich 
          abzeichnenden Brust. Sie trug eine eng anliegende schwarze Hose und 
          eine weinrote Bluse mit sehr kurzen Ärmeln. Sorgsam gezupfte Augenbrauen. 
          Er fand, sie sah gut aus.
 Sie ließ schnell den Blick durch den Raum schweifen. Verweilte eine 
          Sekunde auf dem Piranesi-Druck, bevor sie schließlich ihre Aufmerksamkeit 
          auf Verlangens düstere Visage richtete.
 »You mind if we speak English?«
 Verlangen erklärte, dass er die Sprache nicht vergessen hätte 
          in den letzten dreißig Minuten. So lange war es her, dass sie miteinander 
          telefoniert hatten. Sie verzog leicht den Mund und setzte sich auf den 
          Besucherstuhl. Schlug ein Bein über das andere und räusperte 
          sich. Verlangen streckte ihr die Zigaretten hin, aber sie schüttelte 
          abwehrend den Kopf. Holte stattdessen ihr eigenes Päckchen Gauloises 
          aus der Handtasche und zündete sich eine davon mit einem schlanken, 
          goldenen Feuerzeug an.
 »Sie sind Privatdetektiv?«
 Verlangen nickte.
 »Davon gibt es nicht so viele?«
 »Na, schon den ein oder anderen.«
 »Fünf Stück hier im Ort.«
 »Woher wissen Sie das?«
 »Ich habe im Telefonbuch nachgesehen.«
 »Alle stehen da wahrscheinlich nicht drin.«
 »Nein? Na, jedenfalls habe ich Sie dort gefunden.«
 Verlangen zuckte mit den Schultern. Registrierte, dass sie eine kleine 
          Tätowierung ganz oben am linken Arm hatte, direkt unterhalb des 
          Blusenärmels. Es sah aus wie eine Schwalbe. Oder jedenfalls wie 
          ein Vogel. ***HK***
 Er registrierte auch, dass sie ziemlich braun gebrannt war. Musste offenbar 
          schon mehrfach die Gelegenheit dazu gehabt haben, sich zu sonnen, dachte 
          er, obwohl es doch erst Anfang Juni war. Ihre Haut hatte einen angenehmen 
          Farbton, wie Café au lait. Er überlegte, was für ein Gefühl 
          es wohl war, mit den Fingerspitzen darüber zu streifen.
 Aber vielleicht war sie ja auch nur ein gewöhnliches Solariumhuhn?
 »Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
 »Ein Überwachungsauftrag.«
 »Ein Überwachungsauftrag?«
 »Oder wie Sie es auch nennen. Das gehört doch in Ihr Repertoire?«
 »Natürlich. Und was ist das für ein Objekt, das ich für 
          Sie beobachten soll?«
 »Mein Mann.«
 »Ihr Mann?«
 »Ja. Ich möchte, dass Sie ihn ein paar Tage lang beobachten.«
 »Verstehe.«
 Er blätterte auf eine neue Seite seines Notizblocks und klickte 
          zweimal mit dem Kugelschreiber.
 »Ihr Name, wenn ich darum bitten darf?«
 Am Telefon hatte sie ihn nicht angeben wollen, und sie hatte sich nicht 
          vorgestellt, als sie hereinkam. Sie schien auch jetzt noch eine Sekunde 
          zu zögern, während sie den Rauch der Zigarette einsog.
 »Barbara Hennan.«
 Verlangen schrieb auf.
 »Ich bin Amerikanerin. Mein Mädchenname ist Delgado. Ich bin mit 
          Jaan G. Hennan verheiratet.«
 Er war erst zu der einzeln stehenden Versalie gekommen, als er inne 
          hielt.
 Jaan G?, dachte er. Verdammt noch mal. Jaan G. Hennan.
 »Wir wohnen seit ein paar Monaten hier im Land. Obwohl, mein Mann kommt 
          ja ursprünglich aus Maardam. Wir haben ein Haus unten in Linden 
          gemietet . dreißig Kilometer von hier, ich nehme an, Sie wissen, wo 
          das liegt?«
 »Ja, natürlich.«
 Gab es noch weitere Jaan G. Hennans? Vermutlich. Aber wie groß war die 
          Wahrscheinlichkeit, dass es einer der anderen war? Und wie .?
 »Wie viel nehmen Sie an Honorar?«
 »Das kommt darauf an.«
 »Kommt worauf an?«
 »Auf die Art des Auftrags. Zeitumfang. Kosten .«
 »Ich möchte, dass sie meinen Mann ein paar Tage lang observieren. 
          Von morgens bis abends, Sie werden kaum Zeit für andere Aufträge 
          haben.«
 »Warum wollen Sie, dass er überwacht wird?«
 »Darauf möchte ich nicht näher eingehen. Ich wünsche 
          mir nur, dass Sie kontrollieren, was er vorhat und es mir hinterher 
          berichten. Okay?«
 Sie zog eine Augenbraue hoch und wurde noch schöner.
 Klassisch, dachte er. Das ist verflucht noch mal einfach klassisch. 
          Es kam nicht oft vor, dass er sich wie Philip Marlowe fühlte, zumindest 
          nicht in nüchternem Zustand. Vielleicht sollte er es einfach genießen, 
          so lange es anhielt.
 »Das ist kein ungewöhnlicher Auftrag«, sagte er. »Aber ich habe 
          noch einige Fragen.«
 »Bitte schön.«
 »Distanz und Diskretion, beispielsweise?«
 »Distanz und .?«
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   »Wie detailliert möchten Sie es haben? Wenn er ins Restaurant geht, 
          wollen Sie auch wissen, was er isst, mit wem er sich unterhält, 
          was gesprochen wird .« Sie unterbrach ihn, indem sie die rechte Hand zehn Zentimeter über 
          den Tisch hob. Die Schwalbe bewegte sich sinnlich.
 »Ich verstehe, was Sie meinen. Nein, es genügt, wenn ich alles 
          in groben Zügen erfahre. Sollten wir überdies spezielle Einzelheiten 
          interessant erscheinen, dann kann ich Ihnen das ja noch mitteilen, oder?«
 »Selbstverständlich. Sie bestimmen die Regeln. Und er soll nicht 
          merken, dass ich ihn beschatte?«
 Wieder zögerte sie.
 »Möglichst nicht.«
 »Darf ich fragen, was er arbeitet?«
 »Er hat eine Importfirma. Gerade erst gegründet natürlich 
          . aber so was Ähnliches hat er schon in Denver gemacht.«
 »Welche Produkte?«
 Sie zuckte mit den Schultern.
 »Verschiedene. Teile für Computer beispielsweise. Was spielt denn 
          der Beruf meines Mannes in diesem Zusammenhang für eine Rolle? 
          Ich will doch nur, dass Sie ihn im Auge behalten.«
 Verlangen faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch und machte 
          eine kurze Pause.
 »Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, Frau Hennan«, sagte er dann 
          mit einem, wie er hoffte, rau und männlichem Ton, ». darf ich Sie 
          darauf aufmerksam machen, dass ich den Auftrag noch nicht angenommen 
          habe. Sie möchten, dass ich Ihren Mann beschatte, aber wenn ich 
          es tue, dann muss ich wissen, worauf ich mich einlasse . Ich bin es 
          nicht gewohnt, die Katze im Sack zu kaufen. Wer das tut, wird man in 
          dieser Branche nicht alt.«
 Sie runzelte die Stirn. Offensichtlich war ihr die Möglichkeit, 
          er könnte ablehnen, gar nicht in den Sinn gekommen war.
 »Ich verstehe«, sagte sie. »Entschuldigen Sie. Aber Sie sind doch dennoch 
          einer gewissen . Diskretion verpflichtet, oder?«
 »Aber natürlich. In den angemessenen Grenzen. Aber ohne gewisse 
          Informationen habe ich einfach nicht die Möglichkeit, den Auftrag 
          in zufrieden stellender Art und Weise auszuführen. Ich muss etwas 
          über die Gewohnheiten Ihres Mannes wissen. Wie sein Arbeitstag 
          aussieht. An welchen Orten er sich aufhält, welche Menschen er 
          zu treffen pflegt. Und so weiter. Am liebsten würde ich natürlich 
          erfahren, was dahinter steckt . warum Sie möchten, dass er überwacht 
          wird, aber ich akzeptiere es, dass Sie mir diese Informationen nicht 
          geben möchten.«
 Sie machte eine leichte Kopfbewegung von rechts nach links und betrachtete 
          erneut den Piranesi-Druck einige Sekunden lang.
 »Nun ja, ich respektiere natürlich Ihren Berufscodex. Was seine 
          Gewohnheiten angeht, so sind sie nicht besonders ausgefallen. Wir wohnen 
          wie gesagt in diesem Haus am Rande von Linden. Er hat sein Büro 
          im Zentrum, wo er jeden Tag sechs, sieben Stunden verbringt. Manchmal 
          essen wir mittags zusammen, wenn ich etwas in der Stadt zu tun habe. 
          Ich bereite gewöhnlich das Abendessen für sieben Uhr vor, 
          aber ab und zu isst er auch mit einem Geschäftspartner . unser 
          Bekanntenkreis ist ziemlich begrenzt, wir wohnen ja erst seit ein paar 
          Monaten hier. Ja, das ist im Großen und Ganzen alles. Die Wochenenden 
          sehen natürlich ganz anders aus, da sind wir meistens die ganze 
          Zeit zusammen, da brauche ich Ihre Hilfe nicht.«
 Verlangen hatten sich eifrig Notizen gemacht, während sie redete. 
          Jetzt kratzte er sich im Nacken und schaute auf.
 »Welche Bekannten haben Sie?«
 Sie fischte eine neue Zigarette heraus.
 »Eigentlich gar keine. Mein Mann trifft natürlich durch seine Arbeit 
          so einige Leute, aber ich für meinen Teil habe eigentlich nur die 
          Trottas, an die ich mich wenden kann, wenn etwas sein sollte . das sind 
          unsere direkten Nachbarn, ehrlich gesagt ziemliche Langweiler, aber 
          jedenfalls haben wir uns schon gegenseitig zum Essen eingeladen. Er 
          ist Pilot, sie ist zu Hause. Außerdem haben sie noch zwei unerzogene 
          Kinder.«
 »Im Trotzalter?«
 »Ja.«
 Verlangen machte sich Notizen.
 »Ein Foto?«, fragte er. »Ich brauche ein Foto von Ihrem Mann.«
 Sie holte einen weißen Umschlag aus der Handtasche und reichte ihm den. 
          Er nahm zwei Fotos heraus, beide im Format zehn mal fünfzehn Zentimeter.
 Jaan G. Hennan betrachtete ihn mit ernstem Blick.
 Zehn Jahre älter, aber der gleiche Jaan G., da gab es keinen Zweifel. 
          Die Fotos schienen ziemlich neu zu sein, nach allem zu urteilen stammten 
          beide vom selben Film, und beide waren im Seitenprofil aufgenommen. 
          Das eine von rechts, das andere von links. Die gleichen intensiv bohrenden 
          Augen. Die gleichen strammen Lippen und die gleiche kräftige Wangenpartie. 
          Das selbe, kurz geschnittene dunkle Haar. Er schob die Fotos zurück 
          in den Umschlag.
 »All right«, sagte er. »Ich mache es. Unter der Voraussetzung, dass 
          wir uns bezüglich der Details einig werden.«
 »Welcher Details?«
 »Der Zeit. Der Art der Durchführung. Des Honorars.«
 Sie nickte.
 »Nur ein paar Tage, wie gesagt. Auf jeden Fall nicht länger als 
          zwei Wochen. Wenn Sie morgen anfangen könnten, wäre ich Ihnen 
          dankbar . Was meinen Sie mit der Art der Durchführung?«
 »Vierundzwanzig Stunden am Tag oder nur zwölf? Der Grad der Diskretion 
          und der Intensität . ja, was ich schon erwähnt habe.«
 Sie zog an der Zigarette und blies den Rauch in einem schmalen, langen 
          Strang aus. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass sie normalerweise 
          gar nicht rauchte. Dass sie sich nur ein Päckchen Gauloises gekauft 
          hatte, um Eindruck zu machen. Was für ein Eindruck das auch immer 
          sein mochte.
 »Wenn er nicht zu Hause ist«, entschied sie. »Das genügt. Sie beobachtete 
          ihn von dem Moment an, wenn er morgens los geht, bis zu dem Zeitpunkt, 
          wenn er nach Hause kommt .«
 »Und er soll mich nicht entdecken.«
 Es entstand eine weitere kurze Pause, und er notierte sich, dass sie 
          sich in diesem Punkt immer noch nicht voll und ganz entschieden hatte.
 »Nein«, sagte sie. »Achten Sie darauf, dass er Sie nicht sieht. Wenn 
          ich meine Meinung ändere, dann werde ich Sie das wissen lassen. 
          Wie viel muss ich bezahlen?«
 Er schien nachzudenken und kritzelte ein paar Ziffern auf den Block.
 »Dreihundert Gulden pro Tag plus Unkosten.«
 Das schien sie nicht zu überraschen.
 »Vorschuss für drei Tage. Es kann sein, dass ich gezwungen bin, 
          mir ein Zimmer in Linden zu nehmen . Wie möchten Sie den Bericht 
          haben?«
 »Einmal am Tag«, sagte sie, ohne zu zögern. »Es wäre mir lieb, 
          wenn Sie mich jeweils irgendwann vormittags anrufen. Dann bin ich immer 
          zu Hause. Wenn ich denke, dass es notwendig ist, können wir uns 
          treffen, aber ich hoffe, das wird erst einmal nicht der Fall sein.«
 Verlangen hatte ein weiteres »Warum?« auf der Zunge, aber es gelang 
          ihm, es hinunterzuschlucken.
 »Gut«, sagte er stattdessen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. 
          »Dann gehe ich davon aus, dass wir uns einig sind. Darf ich Sie noch 
          um Ihre Adresse und Telefonnummer bitten, dann werde ich morgen früh 
          anfangen . und um meinen Vorschuss natürlich.«
 Sie zog eine dunkelrote Brieftasche heraus und holte zwei Fünfhundertguldenscheine 
          hervor. Und eine Visitenkarte.
 »Tausend«, erklärte sie. »Sagen wir erst einmal bis auf weiteres 
          tausend.«
 Er nahm das Geld und die Karte entgegen. Sie stand auf und streckte 
          ihm über den Tisch hinweg die Hand entgegen.
 »Danke, Herr Verlangen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie die Sache 
          übernehmen. Das wird . das wird mein Leben leichter machen.«
 Wirklich?, dachte er und ergriff ihre Hand. Und wie? Sie schaute ihm 
          für einen langen Bruchteil einer Sekunde direkt in die Augen, und 
          er überlegte wieder, was für ein Gefühl das wohl wäre, 
          einen anderen Teil ihres Körpers anzufassen als nur die feste und 
          angenehm kühle Handfläche.
 »Ich werde mein Bestes tun«, versprach er.
 
 Danke an den btb Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.
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